Endgültigkeiten
In meinen Gedanken sehe ich mich vor mir. Gestern.
Die Party neigt sich dem Ende zu. Ich sitze auf einer Bank an ein großes Glasfenster gelehnt. Die bunten Partylichter wirbeln durch den Raum und streifen mich. Neben mir meine Freundin Carrie , ebenfalls in ihre eigenen Gedanken versunken. Zu meiner Linken....Ricky....der Junge , für den ich seltsame Gefühle hege. Ich weiß nicht ob es so etwas wie Verliebtsein ist. Vielleicht ist es nur Freundschaft. Doch ich weiß ich werde ihn vermissen. Er ist ebenfalls in Gedanken. Müde.
Ich sehe die anderen feiern. Nur noch ein paar. Meine Mitschüler. Ehemalige Mitschüler.
Heute haben wir unser Abitur bestanden. Die Stühle in unserem Stufenraum waren schon übereinander gestapelt gewesen , die Tische an die Wände geschoben. Man hatte uns schon abgehakt. In wenigen Wochen ist unsere Schulzeit offiziell beendet. Und wir werden uns in alle Winde zerstreuen. Einige werden sich nicht mehr sehen. Ein Abschnitt geht unwiederbringlich zu Ende.

Ich kann mit solchen Dingen nicht umgehen. Die Vergänglichkeit war schon immer meine Feindin. Ich bin nicht sehr flexibel...

In mir steigen Gedanken auf. Es war kein leichter Weg gewesen. All der Liebeskummer in den ersten Jahren als Teenager. Ehrgeiz. Prüfungen....und dann...die Oberstufe.
Zum ersten Mal finde ich wirkliche Freunde, fühle mich gemocht. All die Parties....
Und dann Er....mein Fluch. Ich war mit ihm zusammen und zum ersten Mal sah ich die schlechten Seiten in der Welt. Er schlug mich , schrie mich an...behandelte mich wie Dreck. Ein Jahr dauerte dieser Alptraum bis ich mich traute mich von ihm zu trennen.
Dann ....die Blütezeit meines noch jungen Lebens. Ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Aufgehobensein. Ein gemeinsames Ziel.
Und auf einmal steht das Abitur vor der Tür.

Ich kann nicht mehr schlafen , glaube verrückt zu werden. Der Druck macht mich wahnsinnig. Kurz vor Weihnachten verstirbt mein geliebter Opa. Zusammenbrüche. Er würde mein Abitur nie erleben. Die ganze Familie trauert.
Vor meinen Prüfungen erlebe ich drei schlaflose Nächte , meine Hände zittern während ich schreibe...das grelle Licht der Turnhalle bringt meine Augen dazu zu brennen.
Und gestern Morgen...ein letztes mal Bauchkribbeln und ich halte die Ergebnisse in der Hand. Sie sind nicht schlecht. Ich bin froh und voller Euphorie. Abends die Party.

Ich blicke auf so vieles zurück. Und muss Dinge hinter mir lassen , die mir so viel bedeutet haben...

Ich kann nicht mit Ricky reden. Ich weiß nicht einmal was ich ihm sagen will. Nur , dass ich mit ihm reden will. Ich habe Angst ihn zu verlieren , wenn wir alle auseinandergehen und weiß dennoch nicht warum. Er ist nicht Teil meines engsten Freundeskreises. Wir unterhalten uns öfter via Icq oder immer mal kurz in der Schule. Also...wir unterhielten uns in der Schule. Wir werden ja nie mehr Unterricht haben.

Ich weiß nicht warum ich so traurig bin. Am Ende habe ich die Schule gehasst. Unfaire Noten....schlechte Lehrer...Prüfungen....Druck. Aber dennoch....dennoch war nicht alles schlecht.

Die gemeinsamen Mittagspausen , im Sommer Freistunden auf dem Rasen im Park. Zusammen über Zeitschriften gebeugt im Stufenraum scherzen...Eisessen auf der Mauer im Pausenhof. Gemeinsame Zeit.

Vorbei. Vorbei. Und ich werde wieder mal nicht fertig damit. Alles schmeckt nach Abschied. Und ich kann die Zeit nicht aufhalten, kann nicht dafür sorgen , dass sich die Erde nicht weiterdreht. Alles rinnt mir durch die Finger.

Vorhin sah ich aus dem Fenster. Der stürmische Wind trieb die Regenwolken nach Süden. Da fiel mir ein einziges Stück klaren Himmels auf. Es hatte die Form eines fliegenden Vogels , zumindest bildete ich mir das ein.

Ich werde versuchen die neue Freiheit zu fühlen und mich treiben lassen. Die Zukunft kommt so oder so. Ich muss jetzt endlich fliegen lernen.