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Thursday, 28. March 2024
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Tagebuch staunistauni
 1989-09-10 hh:mm
Jubiläum

 

Anfang September 1989 hatte Elvira ihr 30-jähriges Dienstjubiläum bei der Deutschen Reichsbahn. Zu solchen Festlichkeiten wurde der Speiseraum des Betriebes etwas feierlich hergerichtet. Die Tische wurden zusammengerückt, der Jubilar brachte weiße Tischdecken und etwas Tischschmuck von daheim mit. Es hatte sich so eingebürgert, dass der Jubilar für ein ordentliches kaltes Büffet (bezahlt von der Gewerkschaft) zu sorgen hatte, was immer mit einigen Anstrengungen verbunden war. So hatte Elvira am Vortage lange in der Schlange des „Delikatgeschäftes“ gestanden, um etwas besonderes auf die Festtafel zu bringen. Mit der Beschaffung von gutem Bier hatte sie Glück. Ihre Kollegin Petra arbeitete nebenbei in einer Konsumkaufhalle und so konnte Elvira nach Ladenschluss über den Personaleingang zwei Kästen „Radeberger Pilsner“ erwerben. Ansonsten wäre es mit dem Bier schwierig geworden, denn wenn es schon mal gutes Bier gab, dann stand dort ein Schild: „Bitte nur 5 Flaschen“ entnehmen. Billigen Schnaps gab es in der DDR immer, der war in den ganzen vierzig Jahren niemals Mangelware, genau so Mehl, Zucker, Milch, Weiß- und Rotkohl.

Nachdem Elvira mit ihren Kolleginnen den äußeren Rahmen gestaltet hatte, begann der Fachdirektor Wilfried Kunze (der ihr damals die Reise zum 50. Geburtstag von Bruder Hans-Jürgen vermasseln wollte), seine Rede. Es fiel ihm sichtlich schwer, für Elvira als abgängige Genossin, die richtigen Worte zu finden. Da sie aber ihre Arbeit ordentlich machte und auch nicht unbeliebt war, bekam er schon eine ganz passable Laudatio zusammen. Elvira bekam einen schönen Blumenstrauß und 1000,-- Mark der DDR für 30 Jahre treue Dienste bei der Deutschen Reichsbahn. Es war schon immer ihr Wunsch gewesen, 1000,- Mark auf einmal zur Verfügung zu haben, aber leider, im Moment nützten sie ihr nicht viel. Die Schefflers hatten aus dem Erbgeld noch eine größere Summe auf dem Konto, von dem sie bald das vor fünfzehn Jahren bestellte Auto kaufen wollten. Nun waren es noch 1000, -Mark mehr. Noch nie hatten sie so viel Geld auf dem Konto gehabt, wie zu dem Zeitpunkt, da sie planten, die DDR zu verlassen.

An diesem Abend saß nun die Betriebsleitung und einige eingeladene Kolleginnen sowie die Beschäftigten ihrer Abteilung in gemütlicher Runde zusammen.

Außer der schönen Carla! Sie war gerade in der Sowjetunion im Urlaub. Carla Thewes war, so dachten alle, bei der Stasi. Sie hatte ein sehr undurchsichtiges Wesen, schlich morgens, bevor sie an den Arbeitsplatz ging, fast täglich zum Fachdirektor. „Der Dicke“ wie alle ihn heimlich nannten, war mit seiner Körperfülle nicht gerade als attraktiv zu bezeichnen. Deshalb schmeichelte ihm die katzenhafte Art von Carla Thewes besonders.

Im geselligen Teil der Jubiläumsfeier hatte Wilfried Kunze neben Elvira Platz genommen und so konnte sie ihn geschickt in Gespräche verwickeln, deren Richtung sie in ihrer ganz leicht beschwipsten Verfassung gut lenken konnte. Sehr bewusst, goss Elvira in günstigen Augenblicken die Schnäpse, die er ihr einschenkte, immer wieder in sein Glas zurück. So konnte sie verhindern, dass sie sich aus der Kontrolle verlor. Wilfried machte der Alkohol immer redseliger. Da Elvira ihm gegenüber immer äußerst zurückhaltend gewesen war und er von ihr privat so gut wie gar nichts wusste, wurde er von Glas zu Glas neugieriger und gesprächiger. In dieser Stimmung fiel es Elvira erstmals nicht schwer, den Fachdirektor beim Vornamen zu nennen. Das „Du“ hatte er ihr bei einer Tagung angeboten gehabt. Bisher hatte sie aber diese Anrede stets vermieden. Es dauerte nicht lange, da begann Wilfried ihr zum Munde zu reden, er ließ sich zu Äußerungen hinreißen, die er öffentlich und nüchtern nie getan hätte. Als suche er eine Verbündete, platzte es plötzlich aus dem tausendprozentigen Genossen heraus: „Ich kann gut verstehen, dass du damals aus der Partei ausgetreten bist. Mir wäre es am liebsten, ich könnte das auch!“ Er schimpfte über die derzeitigen katastrophalen Zustände in der DDR und über die Entwicklung, die der Staat in den letzten Jahren genommen hätte. Es reizte Elvira noch ein Stückchen weiter zu gehen: „Leute in deiner Position müssen in diesen unruhigen Zeiten besonders vorsichtig sein, weißt du, überall gibt es Menschen, die einem gefährlich werden können. Die schönsten und nettesten sind von jeher die gefährlichsten“. Ohne einen Namen zu nennen, hatte er sofort begriffen, dass Elvira die „schöne Carla“ meinte und geriet regelrecht in Panik. Als wäre ihm ein Licht aufgegangen, wurde er plötzlich immer schweigsamer und leerte die Gläser noch schneller.

Innerlich triumphierend setzte sich Elvira dann ins Taxi, was für Jubilare an so einem Tag spendiert wurde. Er nutzte die kostenlose Heimfahrtsmöglichkeit und setzte sich natürlich zu ihr auf die Rückbank. Hier wollte er Elviras Nähe ausnutzen und sie begrapschen, was sie aber geschickt zu verhindern wusste.

Später erfuhr sie, dass „der Dicke“ einer der ersten war, der sich während einer Dienstfahrt, natürlich in Begleitung eines Kollegen, die 100,- DM Begrüßungsgeld abgeholt hatte. Er war auch einer der ersten, die aus dem Betrieb ausschieden und sich in den Ruhestand flüchteten.

 

Viel später kam Elvira oftmals der Gedanke: „Wie hätten sich ihre westdeutschen Kollegen wohl verhalten, wenn sie in der DDR gelebt hätten?

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