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Friday, 19. April 2024
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Tagebuch staunistauni
 1958-11-02 hh:mm
  Nach diesem Urlaub war Elvir...

 

Nach diesem Urlaub war Elvira froh, all die Lehrlinge, die sie noch im vorigen Jahr als doof bezeichnet hatte, wiederzusehen. Auch nach ihrem Lehrausbilder hatte sie große Sehnsucht gehabt und so schrieb sie weiter alle ihre Gefühle und Erlebnisse im Badezimmer auf dem Schuhschrank in ihr Tagebuch. Die Gefühle ihres jugendlichen Herzens bestimmten zu dieser Zeit einen großen Teil ihrer Tage. In diesem Lebensabschnitt gerieten erstmals Eltern und Geschwister, selbst die alten Freundinnen in den Hintergrund.

Wenn sich eine Möglichkeit bot, irgendwie in der Nähe ihres Schwarms zu sein, so nahm sie diese wahr. Sie holte sogar Kinokarten für ihn und seine Freundin, schrieb in seinem Arbeitsraum freiwillig Dienstpläne für die Gruppe, so dass die anderen Lehrlinge, besonders die Jungen, dachten, sie wolle sich nur „einkratzen“. Das störte sie absolut nicht, denn sie lebte damals in einer anderen Welt.

Der Höhepunkt war der gemeinsame Theaterabend mit ihm im „Großen Haus“ bei „Faust I.“

Ihre Freundin Christine Parker aus dem gleichen Lehrjahr hatte mit ihr ein Theateranrecht. Crissi war mehr für die Opern und Elvi liebte von jeher Schauspiele. Siegfried Büchner hörte von den Karten und hätte sie den Mädchen am liebsten beide abgekauft, um mit einer seiner Freundinnen den „Faust“ zu sehen. Da sah Elvira ihre einmalige Chance. „Nein, meine Karte gebe ich um nichts auf der Welt her!“ Ihr Traum wurde wahr. Siegfried nahm nur die Karte von Crissi und so saß Elvira dann mit ihrem Schwarm fast fünf Stunden im Theater. Lange hatte sie vorm Spiegel gesessen und sich von ihren wenigen Kleidern das schönste ausgesucht. Wie ihr zumute war, als Gretchen die Worte sprach: „Mein Ruh` ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmer mehr...“ kann sich wohl nur ein sechzehnjähriger fantasievoller Teenager vorstellen.

Natürlich schrieb sie mit heißem Herzen auch diese Begebenheit in ihr Tagebuch. Leider konnte sie das Buch weder verschließen noch verstecken. Daheim hatte sie eine neugierige Mutter und ihr einziges kleines Schrankfach bot auch kein Versteck. So nahm sie das Heftchen stets in ihrer Schultasche mit, dort war es ihr am sichersten.

An einem Montag, an dem wieder Praxisunterricht bei Herrn Büchner war, kam Elvira nach der Mittagspause etwas später in die Klasse. Irgendetwas war anders als sonst. Alle schauten auf sie und kicherten, bis einer der Jungen, zu ihr sagte: „Elke hat uns aus deinem Tagebuch vorgelesen und ich habe es jetzt dem Herrn Büchner gegeben. So eine Frechheit von Dir, so etwas zu schreiben!“ Da hatte doch Elke Erler beobachtet, wie Elvira kurz im Tagebuch geblättert hatte und das Buch aus der Schultasche genommen, um sich beim Vorlesen vor der Klasse wichtig zu tun. Für Elvira brach im Moment alles zusammen. Sie wusste nicht wie ihr geschah. Da kam auch schon Herr Büchner in die Klasse. Das Mädchen hätte in den Boden versinken können. Schnell packte sie ihre Tasche und verließ fluchtartig den Unterrichtsraum. Der Ausbilder rief ihr noch nach: „Sie melden sich um fünf im Lehrmeisterzimmer!“

Was sollte sie jetzt tun? Blitzschnell jagten die Gedanken hin und her. Ihr fiel ein, dass zu dieser Tageszeit niemand zuhause war. Daheim angekommen, warf sie sich aufs Sofa und schluchzte wohl mehrere Stunden unaufhörlich. “Was sollte jetzt werden?“ Mit ihren Eltern könnte sie nicht darüber reden. Mit ihnen hatte sie noch nie über so intime Dinge gesprochen. Was sollte Herr Büchner nur von ihr denken? Das Schlimmste aber waren eigentlich die anderen Lehrlinge. Wie sollte sie die hämischen Blicke und die dummen Sprüche von denen ertragen? “ Nie wieder gehe ich dorthin! Nie wieder! Am besten wäre es jetzt, ich würde mir das Leben nehmen, da hätte ich meine Ruhe!“ „Ja, das wäre wohl das Allerbeste!“ Der Gedanke war noch nicht zuende gedacht, da fiel ihr ein, dass die Eltern bald heimkommen würden und, hatte der Büchner nicht gesagt, sie solle sich um fünf im Lehrmeisterzimmer melden? Kurz entschlossen wusch sie ihr verquollenes Gesicht und suchte sich ihren schönsten „Westpullover“ raus. Schon hatte die Eitelkeit wieder gesiegt.

Zwar sehr beschämt, aber doch schon wieder etwas neugierig auf die Reaktion von Siegfried Büchner, betrat sie genau um fünf Uhr nachmittags sein Arbeitszimmer.

Es wurde ein wirklich gutes Gespräch. Der Dreißigjährige sprach davon, dass sich die Gefühle in den Entwicklungsjahren manchmal seltsame Wege suchen und war wirklich sehr verständnisvoll. Sie sprachen ziemlich lange und nachdem er ihr versichert hatte, dass er den Mitschülern verboten hatte, Elvira wegen der Sache zu ärgern, ging sie ziemlich beruhigt nach Hause.

Verwirrt hatte sie nur seine Aussage: „Wenn Sie ausgelernt haben, sieht die Sache mit uns ganz anders aus!“ Wollte er sich eine Hintertür auflassen? Das war schon komisch! Liebte er sie insgeheim doch?“

Tatsächlich ließen sie die Mitschüler in Ruhe, aber die ersten Tage danach waren wie Spießrutenlaufen. Doch wie über alles, so wuchs auch über diese Sache langsam Gras. Ein Tagebuch hat Elvira allerdings nie wieder geschrieben. Durch dieses Erlebnis normalisierten sich die Gefühle zu ihrem Ausbilder immer mehr.

Die Lehrzeit verging wie im Fluge. Die praktische und theoretische Ausbildung war bei der Deutschen Reichsbahn wirklich gut organisiert. Die Jugendlichen durchliefen in den Lehrjahren sämtliche möglichen Arbeitsplätze und konnten sich somit ein wirkliches Bild von dem Gesamtbetrieb Eisenbahn machen. Außer der Berufsschule, die eng mit dem jeweiligen Praxisabschnitt abgestimmt war, nahmen die Lehrlinge an drei sehr gut vorbereiteten Exkursionen teil. Diese Fahrten führten ins Vogtland, nach Thüringen und in den östlichen Harz. Hier besichtigten die jungen Leute auch andere zur Deutschen Reichsbahn gehörenden Betriebe, wie Bahnbetriebswerke und Wagenwerke und lernten interessante Bahnstrecken kennen. Die Organisation hatten sie ihren tollen Lehrern Dr. Herzog und Herrn Silbermann zu verdanken. Diese förderten bei den Schülern Interessen, die auch außerhalb der sozialistischen Lehrpläne lagen. So konnte besonders Dr. Herzog interessant von den vielen Tunnelbauten in den Alpen berichten. Die vielen ehemaligen Lehrlinge, die seine Ausbildung durchliefen, hatten nach der Wiedervereinigung ein großes Plus, weil sie die Verkehrsgeographie der Bundesrepublik beinahe genau so gut beherrschten wie die der DDR. Gelang es ihnen doch schneller als anderen, die westdeutschen Städte, Gebirge und Flüsse auf der Landkarte zuzuordnen.

Während dieser Exkursionen sahen die jungen Menschen auch das Zeiss-Planetarium an und besichtigten stark beeindruckt das Konzentrationslager Buchenwald, sie erfuhren vieles von den großen Dichtern und Denkern sowie von den klassischen Musikern. Wanderungen auf die Wartburg, den Inselsberg, später auf den Brocken und zur Rappbodetalsperre blieben allen für immer im Gedächtnis.

Die Organisation der Schulbildung, Berufsausbildung, der weiterführenden Schulen und Universitäten in der DDR betrachtet Elvira auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall noch als gelungen und Beispiel gebend.

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