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Tagebuch sie
2020-06-06 01:55
aus aktuellem anlass

vor einem jahr wohnte ich mit meinem partner in einem schönen mehrfamilienholzhaus am rand einer hessischen universitätsstadt. unsere nachbarn waren alle relativ jung, bisschen öko, bisschen alternativ, sehr friedfertig, politisch korrekt und weiß – sie hatten kleine kinder und studierten irgendwas mit nachhaltigkeit, oder hatten keine und arbeiteten bei einem naturkosmetikunternehmen. die atmosphäre war entspannt und bisschen utopisch: man hat gemerkt, dass hier fans von astrid lindgren wohnten.

eines abends saßen die nachbarn von nebenan zusammen mit freunden auf der terrasse und hatten spaß. mein partner und ich teilten uns eine zigarette, tranken irgendwas und hörten leise musik. es war ein schöner und lauer frühsommerabend. die stimmen nebenan wurden immer lauter, offensichtlich floss da mehr alkohol als bei uns. ich hörte gelächter und immer wieder das n-wort und wollte kein spielverderber sein, mich aber auch nicht von der terrasse vertreiben lassen. also blieb ich draußen und versuchte, nicht hinzuhören, was mir nicht gelang. zwei weibliche stimmen schienen sich darin übertrumpfen zu wollen, möglichst viele features schwarzer menschen zu nennen, die sie als eklig bezeichneten und mehr als einmal gingen die beleidigungen unter die gürtellinie, immer begleitet von johlen und lachen der restlichen kleinen gesellschaft. als dann der satz fiel, ,,die sollen nicht die gleiche luft atmen wie ich", hielt ich es nicht mehr aus und schrie rüber, sie sollen sofort aufhören, eine solche rassistische scheiße von sich zu geben und dass sie widerlich seien, dass sie bloß ihren mund halten sollen und dass man sowas ja nicht aushielte. ich stürmte ins haus und knallte die terrassentür zu.

am nächsten tag erzählte ich vor meiner haustür anderen nachbarn von dem vorfall, die das (natürlich) schlimm fanden. in ihrem beisein kam trat eines der mädels des vorigen abends an mich heran. sie fuhr mich an, wie ich es wagen konnte, sie und ihre freundin zu beleidigen und derart ,,auszurasten". die anderen nachbarn standen daneben und schwiegen. ich meinte, sie könne nicht erwarten, dass ich nett zu ihr sei, wenn sie rassistische aussagen von sich gibt. sie fuhr fort, mich zurechtzuweisen und mir zeug auf die nase zu binden: sie sei etwa kein rassist, weil sie 2015 zwei wochen lang mit flüchtlingen zusammengearbeitet habe. ich gab natürlich nicht nach. die anderen nachbarn sagten natürlich nichts. irgendwann ging das mädchen frustriert fort und meine nachbarn meinten, dass sie mich schon verstünden, aber dass man sowas ja auch freundlicher kommunizieren kann.

das ist nur eine klitzekleine kleinigkeit und steht in keinem verhältnis mit dingen, die anderen menschen anderswo und auch hier zustoßen. was mich aber daran so sehr schockiert hat, ist, dass menschen, die man als jung, hochgebildet und open-minded wahrnimmt, die korrekt und anständig scheinen, die aus überzeugung fahrrad fahren und mit ihren kindern zu fridays for future gehen, so dermaßen schwach und feige sein können, wenn die situation schwierig ist und man einer konfrontation nicht wirklich ausweichen kann.
und dann kommen da aussagen, die einen am eigenen verstand zweifeln lassen – blutleere, beschwichtigende phrasen, nach denen man sich in grund und boden dafür schämt, angesichts einer reihe von inakzeptablen aussagen, von denen jede einzelne in einem anderen kontext schon als volksverhetzung verstanden werden könnte, zu heftig reagiert zu haben.

 

long story short: mag sein, dass hierzulande nicht so viele schwarze von der exekutive dank des seit jeher bestehenden institutionalisierten rassismus ermordet werden wie anderswo. aber dass unverschleierter, heftiger menschenhass gegen schwarze existiert und dass viel zu viele unserer mitbürger das einfach so hinnehmen, ist fakt und das darf nicht sein.
ich will kein pädagoge sein und möchte nicht jedem deppen, der es nicht versteht, erklären müssen, dass andere menschen nicht verächtlich gemacht werden dürfen. ich kann mir nicht vorstellen, wie es jemanden, den es regelmäßig und vor allem direkt trifft, gehen muss.
aber ich wünsche mir so sehr, dass sich diese mädels wenigstens halb so sehr dafür schämen, so ekelhaft gewesen zu sein, wie ich mich dafür, dass ich ihnen gegenüber unhöflich geworden bin.

 

bitte versteht das nicht als fishing for compliments oder sowas. ich bin selber nicht ganz ,,weiß" und deswegen wäre es mehr als nur erbärmlich, bei derartigen beleidigungen die schnauze zu halten, die ich aus erzählungen und erlebnissen von und mit meinen eltern, großeltern und so weiter leider nur zu gut kenne

Kommentare

19:43 13.06.2020
boh. ich hab mich beim lesen grad so aufgeregt und hätte genauso gehandelt wie du. wobei ich den schweigenden nachbarn wohl später noch meine meinung gesagt hätte. das ist ja echt krass!
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11:05 06.06.2020
Dass ist das Problem. Viele halten einfach die Klappe. Gut, ich habe gestern auch meine Klappe gehalten, aber es betraf mich und mir war klar, dass ich von außen keine Hilfe erwarten konnte. Aber eigentlich ist es wichtig genau in solchen Momenten etwas zu sagen. Finde es bewundernswert von dir, dass du dich dazu geäußert hast und traurig, dass dein Nachbar dich sogar noch zurechtweist.
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07:45 06.06.2020
Ich finde die Nachbarn, die schweigend daneben stehen und später von dir mehr Freundlichkeit fordern, total daneben! Diese schweigende Mehrheit ist es letztlich, die die Dinge geschehen lässt. Die lauten Idioten fühlen sich durch die Schweizer bestätigt!
Ich finde, dass es Grenzen für Diplomatie gibt. Manches ist einfach NICHT TOLERIERBAR. Wer alles toleriert, dem ist alles gleichgültig.
Ich bin weiß. Und ich wäre auch laut geworden!

In meinem Freundeskreis gibt es auch einen Idioten, den ich, nach Meinung der anderen, "einfach ignorieren" soll, weil "er halt so ist - man kennt ihn ja - im Grunde ist er ein netter Kerl"... Ich halte nicht den Mund, wenn er so rassistisch oder homophob rumprollt- wenn er so'n netter Kerl ist, soll ER sich bitte anders verhalten.

Du hast gar nichts zu bereuen!
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04:34 06.06.2020
Zunächst mal mein voller Respekt für Deine Aufrichtigkeit und Dein Einstehen für eigentlich normale Grundsätze!
Ich hatte das Glück, beruflich sehr international zu arbeiten und öfters an großen Tischen mit vielen Kollegen und Kolleginnen aus den unterschiedlichsten Ländern rund um den Globus zu arbeiten, es ist "eine" Erde und die Rasse heißt "Mensch", trotz vieler (meist ökonomisch trauriger) Unterschiede.
Vielleicht findest Du mit der jungen Dame noch mal die Gelegenheit zum Gespräch im vis-à-vis, dann läuft es manchmal doch anders als über die Distanz bzw. im Kreis mit Mehreren.
Grundsätzlich: alles richtig gemacht, wenn auch vielleicht ein wenig (zu) undiplomatisch
Bleib gesund und
Good luck!
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2020-06-06 01:55