Willkommen auf Tagtt!
Friday, 19. April 2024
Tagebücher » Schatten » News, Bilder, Videos - Online
Tagebuch Schatten
 1919-01-12 hh:mm
Unsere Tage stehen ganz im Zeichen der Wahlen!

Unsere Tage stehen ganz im Zeichen der Wahlen! Wo man hinblickt, sieht man Wahlaufrufe der verschiedenen Parteien. Das Zentrum arbeitet fieberhaft, erfreulicherweise, notgedrungen, mit demselben Ziele wie früheren andere Parteien, welche sich zu der Deutschen Demokratischen Partei vereint haben.
Angesichts der schrecklichen Kämpfe in Berlin, welche schon viele Tote und Verwundete forderten, ist die allgemeine Devise: nur keine rote Regierung! Da nun die Frauen mitwählen, und viel mehr weibliche als männliche Wähler in Betracht kommen, finden fortgesetzt Versammlungen statt, sowie Vorträge zur „Aufklärung“ der wählenden Frauen und Mädchen! Trotz alledem ist man aber jetzt schon fest überzeugt, daß wir die Sozialdemokraten nicht mehr aus der Regierung verdrängen können, wenn auch die Berliner Kämpfe Vielen die Augen geöffnet haben und ein Teil des Volkes einzusehen beginnt, wohin das arme deutsche Reich unter „roter“ Führung gelangte. In Berlin kämpfen täglich die Spartakisten gegen die Regierung. Die Spartakusgruppe hat öff. Gebäude, Bahnhöfe etc. besetzt und schießt mit Maschinengewehren und Handgranaten! Liebknecht und die greuliche  Sozialistin Rosa Luxemburg haben eine große Menge von Anhängern, welche rauben und plündern in schamloser Weise! Auch die Zeitungen sind von der Spartakusgruppe angegriffen worden, teilweise ihr Erscheinen verhindert, andere gezwungen, das Organ der Spartakisten, die „rote Fahne“ zu drucken!! Die Bewegung des Spartakusbundes greift nach und nach auf alle großen Städte über, sogar in dem friedlichen  Stuttgart wurde das Neue Tageblatt gestürmt und die Besitzer gezwungen, das Spartakistenblatt in 100.000 Exemplaren zu drucken!

Wie traurig haben diese letzten 2 Monate unsere Heimat verändert! Man meint, ein Wahnsinn habe das Volk ergriffen! Niemand will arbeiten, Alle wollen nur fein leben und genießen! In ganzen Rudeln gehen Arbeiter jung und alt, umher, die Hände in den Taschen; dann heißt es: die Stadt muß für die Arbeitslosen sorgen! Als der Bürgermeister daraufhin ein Arbeitsnachweisbüro gründete, zur städt. Arbeit pro Tag 6 M., aufforderte – meldete sich zuerst niemand;  dann kamen einige, welche Feldwege ausbessern sollen! Anstatt jedoch draußen zu arbeiten, stehen diese Sozialdemokraten stundenlang und unterhalten sich, keiner rührt die Arbeit an! Aufseher gibt es nicht, das ließen sich die rabiaten Gesellen nicht gefallen, so zahlt die Stadt jedem pro Tag 6 M. für nichts und trotz allem wird nichts geändert! Hätten wir die Franzosen nicht, so wäre Raub, Mord und Plünderung da! Die Sozialdemokraten nehmen hier bedenklich zu! Ohne Polizei, ohne Militär ist diesen Gesellen ja freie Bahn gemacht! Eine Menge hiesiger Frauen stimmen bei der Wahl „roth“.
Nur mit größter Sorge sehen wir den Ereignissen der kommenden Woche entgegen! Am 17.1. läuft der Waffenstillstandsvertrag ab und die Entente hat erklärt, mit der Berliner Regierung keinen Frieden schließen zu wollen, was jeder Vernünftige verstehen kann! ---

Was soll nun aus uns werden? Man erwartet, daß die Franzosen dann die ganze Rheinprovinz besetzen und anektieren! Dann sind wir französisch – unser Hab und Gut ist verloren! Niemand sieht einen Ausweg aus diesem Dilemma! Hier an der Grenze fühlen wir doppelt den Druck dieser Zeit! Wir sind noch immer abgesperrt von dem rechtsrheinischen Land. Weder Post, noch Frachtgut, weder Telegraph noch Telephon, geht hinüber, keine Zeitungen und Briefe kommen! Der franz. Kommandant unserer Stadt steht unter dem Befehl der 10. frz. Division in Mainz und behauptet, nichts zur Entlastung der Stadt tun zu können. Die gesamten linksrheinischen Buchdrucker haben kein Papier mehr und bis zum 15. d.M. müssen die meisten Zeitungen ihr Erscheinen einstellen. Auch wir haben nur noch für einige Tage Druckpapier – was dann wird – wir wissen es nicht! Ein Eisenbahnbeamter aus Metz will versuchen, zwei Ballen Papier aus W. Avold herüberzuschmuggeln, ob es ihm gelingen wird?

Lebensmittel sind knapp, doch kann man wenigstens Fleisch ohne Karte kaufen, pro Pfund 3 M.,  Eier kosten das Stück 60 Pf!  oder die Lothringer schmuggeln Butter hierher, da die Franzosen ihnen nur 2 Frc pro Pfund geben, hier aber erhalten sie M 15 !!!!
Wir haben immer noch einen Franzosen im Haus und obwohl er nicht viel zu Hause ist, fühlt man sich doch gedrückt und genirt!

Unser armer Junge schreibt selten, nun haben wir wieder 8 Wochen keine Nachricht! Und trotz allem Jammer um sein Ergehen bin ich doch froh, daß er augenblicklich nicht hier ist in diesen Wirren! Er müßte  zu s. Regiment  nach Emden, Ostfriesland, und könnte noch in die Kämpfe gegen Polen kommen! --- --- --- ---

Tags

Kommentare

Noch keine Kommentare!
Kommentieren


Nur für registrierte User.

Schatten Offline

Mitglied seit: 11.08.2010
DE mehr...
Wirklich beenden?
Ja | Nein

1919-01-12 hh:mm