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Tagebuch Santana
2005-08-10 20:04
Am Anfang

 

10.8.05

Die Zeit zu nutzen, wenn ich warte, ist eine Kunst. Mir fehlt die Muße, wenn ich dich erwarte, denn dann bin ich ganz Warten. Meine Versuche, die Wartezeit zu verwenden, werden unterbrochen von dem regelmäßigen Blick aus dem Fenster. Heute weiß ich, dass du wieder später kommen wirst. Also räume ich in Ruhe auf, bedenke genau, welche Musik ich in dieser Zeit hören möchte. Bald liege ich auf der Couch und sehe draußen die Trauerweide sich im Wind und Regen biegen. Es ist so kühl und unwirtlich, dass ich den Kaminofen befeuern könnte. Doch dazu müßte ich Holz aus dem Garten hereinholen. Dazu habe ich doch gar keine Zeit, denn du könnest jeden Augenblick erscheinen und ich möchte nicht gern das Geräusch des Schlüssels im Schloß verpassen, wenn du das erste Mal den Schlüssel in seiner eigentlichen Bestimmung benutzt. Ich stelle also die Zentralheizung an. Ich suche Noten heraus, versuche Lieder, die ich einmal früher spielen konnte, zurückzuholen das Gedächtnis meiner Finger. Als problematisch erweist sich aber meine Stimme, die die hohen Töne nicht mehr halten will. Nach jedem Lied schaue ich auf die Uhr und laufe zum Fenster, um zu schauen, ob ich dich nicht schon sehen kann. Dann rufst du an und gibst Bescheid, dass du jetzt gerade losgefahren bist. Ob ich den Kaminofen schon vorbereitet hätte? Damit ist die Entscheidung gefallen und ich kann weitere Minuten totschlagen, indem ich Holz hole und den Ofen anmache. Nach einer halben Stunde stehe ich zweiminütlich am Fenster, aber von dir ist nichts zu sehen. Ich müßte noch einmal in den Schuppen. Ich habe den Schürhaken vergessen. Doch was, wenn du in dann gerade kommst und ich dich verpasse? Ich versuche mich zu sputen, schließe die Tür hinter mir und habe mich ausgesperrt! Ich kann also den Ersatzschlüssel gleich mitbringen und gehe. Als ich wieder um die Hausecke biege, ist das Gartentor offen, an der Türklinke hängt deine Handtasche und ein Wäschekorb mit Holz ist vor der Tür abgestellt. Doch wo bist du? Suchst du mich drinnen? Da kommst du die Auffahrt entlang mit zwei kleinen Balken unter den Armen, deine Haare sind naß, fast so wie damals im Juni.
Schnell flüchten wir ins Wohnzimmer, wo das Feuer bereits eine angenehme Wärme verströmt. Ich nutze die Chance und mache ein paar Fotos von dir, solange deine Haare noch feucht vom Regen sind. Diese Fotos geben mir Rätsel auf. Du hasst dich auf Fotos. Zu groß ist die Differenz zwischen deinem Eigenbild und den kleinen eingefrorenen Augenblicken. Und du hast recht, irgendwie sehe ich dich anders. Ich weiß, dass die Fotos dein Gesicht zeigen, aber nie ist das Abbild in Übereinstimmung mit der Realität, die ich erlebe. Ich mache noch mehr Fotos. Um den Unterschied zwischen den Bildern und dem, was ich an dir sehe klar festzustellen, halte ich den Apparat unverändert, nachdem ich den Auslöser gedrückt habe und vergleiche das Bild auf dem Display mit deinem Gesicht vor mir. Tatsächlich scheint das Foto, je nach Lichtverhältnissen, je nach eingestellter Lichtempfindlichkeit andere Züge hervorzuheben und zu zeigen, die im Blick meiner Augen vermischt sind mit anderen, überlagert werden und nicht sichtbar sind. Der Fotoapparat abstrahiert. Der Blick erfaßt alles in einem Zug. Das Abbild ist also keine Illusion, sondern eine Abstraktion.
Heute bin der Beantwortung einer anderen Frage näher gekommen, nämlich der Frage, warum mich dein Gesicht immer wieder bannt. ‚Der Gesichtsausdruck der Frau beginnt erst mit dreißig Jahren’, schreibt Balzac in La femme de trente ans. Für einen  Romancier des 19. Jahrhunderts ist eine Frau um die dreißig recht uninteressant. In dieser Epoche endet die Jugend einer Frau mit neunzehn und sie muss sich beeilen, einen Ehemann zu finden. Ihre Ehe durchlebt sie in ihren zwanziger Jahren und wird in dieser Zeit Kinder bekommen. Dann, mit Anfang dreißig, sind die Kinder, sofern sie noch leben, aus dem Gröbsten heraus, der Ehemann hat längst das Interesse an ihr verloren und sich eine Geliebte genommen. Ihr bleibt nicht viel, als sich auf ein tugendhaftes und sittsames Leben zu beschränken und auf das Ende zu warten. Doch Balzac entdeckt einen Reiz, den die Frauen erst jetzt haben: Ihre Physiognomie. Bis 30 sei das Gesicht einer Frau so unauffällig ebenmäßig wie die Oberfläche eines Sees. Doch das Leben zeichnet das Gesicht. Ist eine Frau erst einmal Gattin, Mutter und Geliebte gewesen, so hat ihr Gesicht einen Ausdruck angenommen, der sich wie ein Buch liest. Für den Schriftsteller Balzac muss eine solches Gesicht, das die Eigenschaften einer Lektüre hat, eine Faszination haben. ‚Unwiderstehliche Reize’ übt das Gesicht einer Frau in diesen Jahren auf ihre Liebhaber aus, denn sie ist eine Frau mit „cet abyme dans une jolie tete“.
Diesen Hinweis fand ich in einem Buch, das den Titel trägt ‚Knappe Zeit’. Und genau das ist sie für uns beide, erst recht heute. Die großen Zeiger der Uhren haben bereits mehr als einmal einen Kreis auf dem Zifferblatt beschrieben, als ich auf dem Sofa liege und du davor hockst. Lange küssen wir uns, holen nach, was uns Tage lang verwehrt ist. Gerade aus diesem Grund, dass uns so viel verwehrt ist, gehen meine Gedanken weiter zu der Frage, ob wir dieses Mal darauf verzichten sollten, dem Begehren statt zu geben. Zwar spüre ich deine Zurückhaltung, dein eigenes Zögern, die dir ebenfalls vorliegende Frage. Aber je länger wir hier sitzen und uns fragen, desto knapper wird die Zeit und Entscheidungen belieben nicht zu warten auf die, die zu entscheiden haben. Und so entscheide ich, nichts auszulassen und erhebe mich, um mich mit dir auf den Teppich zu legen. Das Feuer im Kaminofen regt sich kaum noch, aber es ist warm genug hier. Ich bin mir sicher, du weißt jetzt, worauf es hinausläuft. Noch scheinst du nicht überzeugt, aber es dauert nicht lange und du löschst das Licht des Deckenfluters. Wir liegen übereinander im Licht der Kerzen, dass den Boden kaum erreicht. Wir werden keine Show für die Nachbarn liefern, auch wenn wir in der Flucht zum Fenster im Arbeitszimmer liegen. Wie schnell du meine Hose öffnest und wieder mit dem Spiel anfängst, an dem du in letzter Zeit offenbar so viel Spaß gefunden hast. Freude, mich in der Hand zu haben, meine Erregung handfest zu machen. Dabei ist die Gefahr groß, dass Spuren auf deiner Hose zurückbleiben. Mein Hemd reißt du ungeschickt auf. Auch wenn ich versuche, mir Zeit mit dir zu lassen und mich deinen Lustpunkten mit Mund und Fingern widme, die Erregung verknappt die Zeit nur noch mehr. Wir haben keine Zeit und wir brauchen deshalb auch keine Kleidung. Schnell liegen wir nackt beieinander, nicht mehr viel trennt uns, die Berührung ist da, deine Hand führt mich zu dir, reibt Spitze an Spitze. Du nimmst dir Zeit, nicht um mich zu verführen, aber um mich rasend zu machen, mich zu treiben, damit ich ungeduldig werde und dann ohne Versäumnis in dich tauche. Das könnte ich, doch ich will es nicht. Ich will auch dich beschleunigen. Und so berührt dein Inneres nur ein Teil des großen Zeigers, bewegt sich nur langsam, so, dass du gerade spürst, dass er da ist, aber keine großen Schritte macht. Das reicht dir nicht und du bist listig genug, um ihn zu entführen, als Geisel zu nehmen und in deiner Hand zurückzuhalten. Welch ein Fehler, kein Lösegeld zu fordern. Statt dessen schlägt die Stunde deiner eigenen Gefangenschaft, denn Kreise ziehen nicht nur die Zeiger einer Uhr, sondern auch meine Zunge zwischen deinen Beinen. Wie herrlich ist dieser Anblick, dich im halbdunkel vor mir liegen zu sehen, mein Mund liebend deine Vulva küssend, kann ich über deinen Bauch, deine Brüste, deinen Hals hinweg noch dein Gesicht sehen, deine Augen nun geschlossen, in vollkommener Hingabe, ohne die Zeit zu bedenken, denn erst wenn sich die Lust ins Unermessliche steigert, wird die Zeit wieder knapp. Jetzt ist sie aufgehoben und jetzt sind nur noch du und ich.
Die Zeit teilt sich nicht selbst ein. Wir sind es, die zeitigen, im Takt unserer Liebe, im Rhythmus unserer Körper, die sich miteinander, aneinander und ineinander bewegen, in jedem Kuss, mit jedem Zungenschlag, durch jede Berührung, alle Seufzer und durch jedes Heben deines Beckens und mit jedem Ruck tiefer.
“Wann haben wir uns zuletzt auf einem Teppich geliebt?“ (Hast du wirklich geliebt gesagt? Oder hast du gefickt gesagt? Wahrscheinlich, denke ich, hast du wortwörtlich gesagt: Wann haben wir es zum letzten Mal auf einem Teppich gemacht? Aus der Sicht des guten Stils betrachtet, sollte man immer den treffenden Ausdruck wählen. Machen ist zu allgemein, als hier treffend zu sein. Ficken trifft ganz bestimmt auf unser über einander Herfallen in der Laube zu! Und heute? War es ficken oder war es lieben?)
Ich wußte, dass wir nicht bleiben würden. Ahnen konnte ich nur, was passieren würde, dass du mich von hinten willst, auf dem Sofa. So legst du dich in Stellung, sammelst die Kissen unter deinem Kopf. Aber ich will die Zeit auskosten, die Zeit der Erwartung und Spannung verlängern und die Zeit der Lust verdichten. Der Kreis schließt sich. Jetzt hocke ich vor dir, führe meine Lippen an dein Ohr und meine Hand an die lusterfüllten Regionen deines Pos. Flüsternd vernehme ich dich nach deinen Wünschen und nehme dich mit den Fingern, deine Wünsche simulierend mit einem unzulänglichen Werkzeug, das zu kurz ist, nicht lang genug ist, so wie die Zeit. Tiefer willst du. Selbst als ich dich erfülle, ist es dir nicht genug. Noch tiefer als die Abgründe in deinem schönen Kopf willst du mich, schnell, tief und kraftvoll soll ich dich nehmen bis die Zeit aussetzt, lange aussetzt in einem dramatischen Höhepunkt, länger als sonst.
Meine Hand konnte nicht die deine ergreifen. Abstützen musste ich mich, um dir dieses Mal zu geben, was du begehrtest. Doch der Höhepunkt, in dem die Zeit still steht, ist zugleich der Wendepunkt, ab dem die Zeit ihre Arbeit in erhöhtem Tempo wieder aufnimmt.
Du bist in Zeitdruck. Wie im Zeitraffer wirst du dich waschen und anziehen, deine Haare bürsten, noch zwei Zigaretten rauchen und dann gehen.
Das ist es, was mich unglücklich macht, die rasende Zeit. Wobei: es ist nicht die Zeit die rast, sondern wir, die wir alles in einen engen Raum stellen müssen. Wir laufen Gefahr, die Orientierung zu verlieren, zu stolpern, aufzuschlagen.

 

 

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