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Tagebuch pitoresk
2008-04-20 08:30
voll krass
Aufgeregt ruft mich mein Freund an. Er habe über ein Internetportal eine Frau kennengelernt und wir sollten uns unbedingt in unserem chinesischen Stammrestaurant treffen, damit ich mir mal einen Eindruck von ihr machen könne. Wenn mein Freund verliebt ist, plant er bereits immer schon die gemeinsame Zukunft vor: er wolle mit ihr zwei Kinder haben.

Wie oft habe ich das schon gehört? Sie haben noch nicht mal miteinander geschlafen, aber es wird schon die Anzahl der Kinder debattiert. Also ich fand und finde das ziemlich pubertär, dabei sind beide schon in einem Alter jenseits der dreißig, wo es doch so langsam die eigenen Gefühle schwerer haben sollten einen selbst zu überrumpeln. Na, wie auch immmer. Als guter Freund stimme ich dem Restauranttreffen natürlich wieder mal zu, obgleich ich mir keine Hoffnungen mache, hier tatsächlich gleich die zukünftige Frau meines Freundes kennenzulernen.

Wir sitzen am einzigen runden Tisch beim Chinesen, werden von der Bedienung aufs Sensibelste behandelt, die sehr schnell durchschaut, um was für ein Treffen es sich hier handelt. Mein ersten Eindruck beim Händeschütteln ist: schwacher Händedruck, so stark geschminkt, dass ihr Gesicht schon maskenhaft wirkt, leichte Tendenz zum zukünftigen Dicksein, wie das bei Menschen aus dieser Region häufig vorkommt und eine gepflegte, erstaunlich offenherzige Kleidung, die ihre Brust betont. Ich zwinge mich nicht gleich eine Meinung zu haben und von Äußerlichkeiten auf den ganzen Menschen zu schließen. Das wäre nicht gerecht. Und doch kann man anhand von Körperhaltung und hormoneller Ausstrahlung viel von der Persönlichkeit ablesen.

Mein Freund ist ein studierter Mann, aber leider jemand der enormen Wert auf Äußerlichkeiten legt und seiner neuen türkischen Bekanntschaft, eine Liebschaft bahnt sich ja bestenfalls gerade erst an, ständig auf die Stiefel schaut. Er ist ein Mann, der die Frauen nach den Schuhen beurteilt. Diesbezüglich hat er einen ausgeprägten Fetisch entwickelt. Ich mache mich immer darüber lustig, da die gleichen Frauen ohne für ihn interessantes Schuhwerk schnell gänzlich jeden Reiz verlieren können. Ich merke dann immer ironisch an: "schön, dass dir als intelligenter Mann innere Werte so wichtig sind." Die Wahrheit ist freilich, er achtet nur auf die Form. Dem Inhalt schenkt er wenig Aufmerksamkeit.

Die türkische Vielleicht-bald-Freundin erzählt von ihrem Kind, den Erzeuger hat sie längst verlassen, da er sie geschlagen hat. Und fast jede Geschichte von ihm oder mir kommentiert sie mit "ey Mann, ist ja voll krass". Der Wortschatz, der unsicheren Türkin, ist nur gering und als sie auf die Toilette geht frage ich meinem Freund: bist du sicher, dass ihr zueinander passt? Weiß sie, dass du Masochist bist und das Liebemachen bei dir mit geschlagen werden zu tun hat? Wird sie sich damit anfreunden können, wo sie doch gerade schlimme Gewalterfahrungen mit ihrem Ex-Mann gesammelt hat? Solltest du dir nicht eine Frau suchen, mit der du auf einer Wellenlänge bist und mit der du dich angeregt unterhalten kannst? Das mit der Faszination für die Schönheit des Anderen lässt doch ohnehin bald nach.

Für Argumente sind Verliebte bekanntlich so rein gar nicht empfänglich. Ihr kennt das sicher von euren Freunden und Freundinnen, wo ihr als nüchternde Betrachter sofort seht, dass die Sache nicht gut gehen kann, während die beiden Beteiligten auf Wolke sieben schweben und alle Diskrepanzen ausblenden. Die Türkin kommt vom Klo, hat sich neu geschminkt und wirkt nun noch ein Stück künstlicher. Als ob sie hinter der vielen Schminke ihre wahren Gefühle verstecken könnte. Sie ist ein verletzbarer Mensch, geht bestimmt sehr liebevoll mit ihrem Kind um. Sie fühlt sich in dieser Restaurant-Situation nicht wohl und ist bestimmt viel selbstbwusster, wenn sie in einer Umgebung ist in der sie sich wohl fühlt.

Mir sind ohnehin beim längeren Kennenlernen, fast alle Menschen irgendwie sympathisch. Irgendwas hat doch jeder etwas an sich, was ihn schwer liebenswert macht. Am Ende komme ich zur Erkenntnis, dass ich besser zu ihr passen würde als mein Freund. Bei der Verabschiedung werden ich inniger umarmt als er und als sie tags darauf miteinander telefonieren, fragt sie nach mir.

Mein Freund ist enttäuscht, ja geradezu entrüstet und fühlt sich nur als Zahler der Restaurant-Rechnung missbraucht. "So liegt die Sache nicht. Ich denke, sie war sich nur noch nicht sicher bei dir. Und das scheint mir angebracht." Die Türkin treffe ich ein paar Wochen später in einem Buchladen wieder. "Ist ja voll krass, dich hier wiederzusehen", begrüßt sie mich. Wir gehen gemeinsam einen Kaffee trinken. Sie ist locker, sie ist nicht so ernst wie im chinesischen Restaurant, sie erzählt offen von sich. Das mit meinem Freund sei nichts geworden, vertraut sie mir an. Der sei ja nur an Sex interessiert und ihre Religion würde es verbieten, sich nur aus sexuellen Motiven zu verbinden. Sie habe schon lange keinen Freund mehr gehabt und habe sich jetzt entschlossen, alleine zu bleiben.

Wir reichen uns zum Abschied die Hand, tauschen noch schnell ein paar Buchtipps aus und ich denke mir so, ja doch eine beeindruckende Frau. Aber das behalte ich lieber für mich.

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