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Tagebuch Necki
2005-06-26 12:55
Die Unsterblichkeit
Die Unsterblichkeit
Milan Kundera

Die Frau mochte sechzig, fünfundsechzig Jahre alt sein. In einem Fitness-Club im obersten Stock eines modernen Gebäudes, durch dessen breite Fenster man ganz Paris sehen konnte, beobachtete ich sie von einem Liegestuhl gegenüber dem Schwimmbecken aus. Ich wartete auf Professor Avenarius, den ich hier gelegentlich traf, um mit ihm zu plaudern. Doch der Professor kam nicht, und ich betrachtete die Dame; sie stand, bis zur Taille im Wasser, allein im Schwimmbecken und schaute zu dem jungen Bademeister in Shorts hinauf, der ihr das Schwimmen beibrachte [...] Ich sah sie fasziniert an [...], bis mich ein Bekannter ansprach und meine Aufmerksamkeit ablenkte. Als ich die Frau nach einer Weile wieder beobachten wollte, war die Lektion beendet, die Frau ging am Becken entlang und am Bademeister vorbei hinaus, und als sie vier oder fünf Schritte von ihm entfernt war, drehte sie nochmals den Kopf, lächelte und winkte ihm zu. In diesem Augenblick krampfte sich mir das Herz zusammen. Dieses Lächeln, diese Geste gehörten zu einer zwanzigjährigen Frau! Ihre Hand schwang sich mit bezaubernder Leichtigkeit in die Höhe. Es war, als würfe sie ihrem Geliebten einen bunten Ball zu. [...] Ich war auf merkwürdige Weise gerührt. Und vor mir tauchte das Wort Agnes auf. Ich habe nie eine Frau mit diesem Namen gekannt."

Ein paar Auszüge aus dem Buch:

...Dann steht sie auf. Ihr gegenüber steht der Fernseher wie ein Storch auf einem langen Bein. Sie wirft ihr Nachthemd darüber, dass den Bildschirm verdeckt, wie ein weißer, plisierter Vorhang. Jetzt steht sie direkt vor dem Bett, und ich sehe sie zum ersten Mal nackt, Agnes, die Heldin meines Romans. Ich kann die Augen nicht von dieser schönen Frau abwenden, und sie, sie geht, als spüre sie meinen Blick ins Nebenzimmer, um sich anzuziehen.

...Agnes hatte es im voraus gewusst, was der Gast ihnen sagen würde, und konnte daher nicht überrascht sein. Dafür war Paul ganz verduzt. Er sah den Gast an, sah Agnes an, und sie konnte nicht anders, als zu sagen: „Und Paul?“
„Paul wird auch nicht hier bleiben“, sagte der Gast. „Ich bin gekommen, um Ihnen das mitzuteilen. Auserwählten Menschen teilen wir es immer mit. Ich möchte Sie nur fragen: wollen Sie im nächsten Leben zusammenbleiben oder einander nicht begegnet?“...

...“Ich werde das Gefühl nicht los“, sagte er, „dass sich der Zufall im menschlichen Leben nicht nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung richtet. Damit will ich sagen: es begegnen uns viele so unwahrscheinliche Zufälle, dass wir sie nicht mathematisch erklären können. Unlängst bin ich durch eine uninteressante Straße in einem uninteressanten Parisier Quartier spaziert und einer Frau aus Hamburg begegnet, die ich vor fünfundzwanzig Jahren fast täglich gesehen und dann aus den Augen verloren habe. Ich bin nur durch diese Straße gegangen, weil ich irrtümlich eine Station zu früh aus der Metro gestiegen bin. Und sie war auf einem dreitägigen Ausflug in Paris und hatte sich verlaufen. Unsere Begegnung hatte ein Milliardstel an Wahrscheinlichkeit!“
„Mit welcher Methode berechnest du die Wahrscheinlichkeit von menschlichen Begegnungen?“

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