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Tagebuch MI
2005-08-27 09:41
Wenn der Glaube fehlt
Was suche ich denn eigentlich in der Kirche und in den Gemeinden? Das ist eine berechtigte Frage. Denn ich stoße da jedesmal wieder auf das gleiche (uralte) Problem: ich traue dem Braten nicht, salopp gesagt.

Aber zunächst: was zieht mich dahin? Auch hier fällt mir wieder eine Szene im "Faust" ein: es ist am Ende der Nacht, in der Faust sich mit dem Geist und später mit Wagner unterhält. Darin - nur kurz erwähnt - auch dieser Satz über die vielen Schriften (das "Pergament") und die Lehren der Vergangenheit: "Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln." (!)

Im Anschluß daran trinkt Faust aus der Phiole, was ihn in die Welt der Magie versetzen solle, weg von dem trostlosen Gelehrtendasein, in dem er nicht gefunden hat, wonach er suchte (so erging es mir auch). Die Szene endet, der nächste Morgen wird mit Kirchenglocken eingeläutet, es ist Ostern (Chor der Engel: "Christ ist erstanden").

Nun spricht Faust zu den Engeln:

"Was sucht ihr, mächtig und gelind,
Ihr Himmelstöne, mich am Staube?
Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind.
Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.
Zu jenen Sphären wag ich nicht zu streben,
Woher die holde Nachricht tönt;
Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,
Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben."


Genauso geht es mir:

1. Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube
2. Und doch, an diesen Klang von Jugend an gewöhnt,
ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.
1.
2.
1.
usw.


Eigentlich ist es schizophren. Was ist das nur, dieser Glockenklang? Was hat er, daß er mich in das Leben zurückzieht? Mich bedächtig macht, mir heimatliche Gefühle vermittelt? Geborgenheit, Vertrauen, Zuversicht?

Oder ist das ganz falsch gedacht? Ist der Glockenklang, der mich bei einem sonntäglichen Spaziergang so tief berührt, mich in die heile Welt der (frühen!) Kindheit versetzt, ist das so eine Art "Sirenengesang"? Soll ich den Kirchen und den Religionen nur auf den Leim gehen? Ist das nur gewollter Selbstbetrug? Weil irgendeinen Sinn das alles hier doch haben muß. Es muß doch irgendwann einmal angefangen haben und muß irgendwann auch einmal zu Ende sein. Oder nicht?

Das kann doch nicht einfach alles nur ein Akt natürlicher Willkür sein. Wie soll denn der Mensch vom Affen abstammen? Wo kommt auf einmal das Bewußtsein her? Ein Affe weiß nicht, daß er ein Affe ist, nur der Mensch weiß das. Woher? Und warum nur er? Warum gibt es nicht irgendetwas zwischen Affe und Mensch? Eine Brücke, ein Bindeglied, ein gleitender Übergang, der Beweis dafür, daß alles evolutionär entstanden ist, ganz ohne einen "Gott"? Zum Beispiel ein sprechender Affe, der sich selbst vielleicht nicht so sehr bewußt ist, aber dennoch nicht einfach nur ein Affe ist? - Zynisch könnte ich jetzt sagen, daß es doch eigentlich genug Beweismaterial gibt. Und wieso soll das zynisch sein?

4,5 Milliarden Jahre alt ist dieser Planet, undendlich das Universum. Die Dinosaurier bevölkerten die Erde über 150 Millionen Jahre. Was dagegen ist schon das Menschenzeitalter? Nichts! Was dagegen sind 5000 Jahre Religion, 2000 Jahre Christentum? Weniger als nichts. Gab es denn schon zur Erdentstehung Kirchenglocken? Ich fühle mich bei dem Klang so sehr in eine Ewigkeit versetzt, daß ich völlig vergesse, daß sie doch nur auf einem Ereignis beruhen, das nicht weiter entfernt als gestern und so ungewöhnlich nun auch wieder nicht ist. Wieviele Menschen wurden denn nicht wegen ihrer offen ausgesprochen Überzeugung getötet?

Und auch hier wieder der Faust:
"Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen? Die wenigen, die was davon erkannt, die töricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten, dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, hat man von je gekreuzigt und verbrannt. -".

Wieviele Menschen wurden gepeinigt, gefoltert, gemordet, nur weil sie der herrschenden Masse nicht in den Kram passten, weil sie die Wahrheit sagten? Wieviele Menschen werden heute zwar nicht mehr gemordet, aber doch ausgegrenzt, nicht beachtet, an der Seite liegengelassen, nur weil sie sich an etwas herantrauen, was die Mehrheit scheut wie der Teufel das Weihwasser? An sich selbst, und zwar in aller Ehrlichkeit, Offenheit und Gründlichkeit?

Warum läuten dann aber die Kirchen die Glocken? Ausgerechnet! Ausgerechnet eine Institution, die sich selbst wahrlich nicht durch Offenheit und Ehrlichkeit auszeichnet, die selbst (und nicht nur in deren Namen) die schlimmsten Ungerechtigkeiten und Verbrechen der Menschengeschichte begangen und das bis heute noch nicht aufgearbeitet hat. Oder bin ich zu streng? Immerhin: offener und ehrlicher als die Politik. Immerhin: sozial engagiert. Immerhin: ein Ort der Begegnung, der Ruhe, der Kontemplation. Ein Mahnmal in Zeiten der Raffgier und Selbstdarstellungshysterie. Und, nicht zuletzt: ein Ort für Familien.

-

Nun lese ich im Gemeindeblatt einen kleinen Aufsatz über das Bibelzitat: "Jesus Christus spricht: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, daß er viele Güter hat." Und muß sogleich denken: ausgerechnet die Kirche zitiert das! Ausgerechnet! Wie ist denn die Kirche an all ihre Güter herangekommen? Etwa nicht über Hab- und Machtgier? Was hat das denn noch mit Jesus zu tun, was sich heute "Kirche" nennt? Ja, Kirche ist gut, die tut was, aber sie ist nicht selbstlos. Ich selbst mit meinen Steuergeldern und Millionen andere zahlen das alles oder tragen doch erheblich dazu bei. Oder nicht?

Der an das Glück der Bescheidenheit appelierende Aufsatz endigt mit: "Nichts ist wichtiger, als unsere Zuversicht in Gott, nichts ist schöner, als die Welt, die er erschaffen hat. Er ist ewig, wir sind hier nur Gäste. Gott sorgt schon dafür, daß wir alles, was wir zum Leben brauchen, auch bekommen."

Und ich denke mir dazu: "Falsch, alles falsch. Und gelogen. Alles falsch und gelogen! Gott sorgt hier für gar nichts und ich habe auch keine Zuversicht in Gott und auch kein Interesse daran." Jawohl, und ich meine, "Gott" soll sich aus allem heraushalten. Ich will in keiner Welt leben, in der ein "Gott" schon dafür sorgt, daß ich "alles, was ich brauche auch bekomme" (und was sagen wohl die Juden mit ihrer leidvollen Geschichte dazu? Und ist das denn nicht gnadenloser Selbstbetrug, angesichts der unzähligen menschlichen Tragödien von einem Gott zu sprechen, der schon „für alles sorgt“?). Ich will hier auch kein Gast sein und ich will keinen Gastgeber. Ich will das alles nicht. Was soll denn die Erde wohl sein und das Leben auf ihr? Irgend so eine Versuchsanstalt mit Netz und doppeltem Boden - falls das Experiment schief geht?

Ne, ne, wenn ich was verbocke, dann verbocke ich es. Ich will keinen Gott, der mich dann auffängt. Und ich will keinen Gott, bei dem ich mich andauernd bedanken muß, wenn es mir gut geht. Ich will volle Verantwortung und will bekommen, was ich verdiene, in jeglicher Hinsicht. Ich selbst will sein, was andere "Gott" nennen. Weg mit dem Mysterium, weg mit dem Sakralen, weg mit dem Beten, Beichten und Büßen! Und weg mit falscher Selbsterniedrigung, die nur aus Feigheit und Angst vor sich selbst entsteht, Angst vor der eigenen dunklen Seite. Ach, diese Gutmenschen, sind sie nicht der Anfang allen Übels?

Und doch, wenn ich die Glocken läuten höre, will ich mich so gerne in Gottes Arme fallen lassen, will ihm vertrauen, an ihn glauben, an einen höheren Sinn, an etwas, das über Wirtschaftswachstum, (solche) Bundestagswahlen und Gehaltsabrechnung nur lachen kann, an ein Ziel, an ein besseres Leben nach diesem Leben (so eine Art "Belohnung"), an etwas, das über mich und meine kleine, ängstliche und erbärmliche Existenz hinausgeht, an einen größeren Zusammenhang, an eine höhrere Macht, die mir die Antworten auf meine quälenden Fragen abnimmt und mich ein Leben lang Kind sein läßt.
Allein mir fehlt der Glaube.

Michael

Kommentare

17:15 30.08.2005
Hallo Claudius, danke für deinen Kommentar. Ja, ganz richtig, und das steckt schon tief drin in mir. Das dumme ist nur, daß mich Agnostiker-Sein auch nicht zufrieden stellt, das ist mir irgendwie zu einfach. Aber vielleicht ist ja auch alles ganz einfach. Zu einfach am Ende Grüße, Michael
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unbekannt
12:34 30.08.2005
Du bist sicherlich Katholik - und kannst dein Kindheits-ICH ( 8Das tradierte, Überkommene aus Kindheitstagen) nicht leicht abstreifen/überwinden!
Ich habe - auch solchen Gedanken wie Du folgend - "Gootes/Kirchengläubigkeit abgestreift und nenn mich jetzt fröhlich "Agnostiker" (=Nichtwisser), bin für mich und meinen Weg allein verantwortlich - man könnte auch sagen " endlich erwachsen geworden und brauche GottVATER nicht mehr"
LG!


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unbekannt
10:05 27.08.2005
Oh weh - ein weites Feld!
Zitat:"Ein Affe weiß nicht, daß er ein Affe ist, nur der Mensch weiß das."
Nur der Mensch weiß, dass er ein Affe ist.
Obwohl - dies Wissen ist mir erst vorgestern wieder zugeflogen, als ich nach Jahren wieder einen Baum erklettert habe.

Mit dem Christentum habe ich abgeschlossen.
Aber das Wort "Gottvertrauen" kommt mir in letzter Zeit häufig in den Sinn.

Gruß
Ralf


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