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Tagebuch MI
2005-08-16 18:45
Nada Brahma
Ein Mensch ist im Grunde wie so eine Art Spieluhr oder Spielmännchen. Irgendwo las ich kürzlich auch, daß Schlafen so etwas wie das Aufziehen einer Spieluhr ist. Nach einem guten Schlaf fühle ich mich ausgeruht, aufgeladen, ich kann die gesammelte Energie über den Tag verteilen und so mein Lied spielen.

Jede Spieluhr hat dabei ihr eigenes Lied, ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Harmonie. Man kann an diesen Dingen nicht viel ändern. Es gibt einen Lautstärkeregler, so daß die Spieluhr leiser wird. Man kann sie gewaltsam anhalten: dann steht sie unter Druck, und es wird immer weiter Energie aufgeladen, bis sie sich schließlich blitzartig entlädt. Und dann geht alles wieder seinen gewohnten Gang und man kann im Grunde überhaupt nichts tun, außer die Dinge ihren Gang nehmen zu lassen.

Und was ist mit dem freien Willen? Ich kann für mich und aus meiner Beobachtung nur sagen, daß ich nicht wüßte, was das sein soll. Ehrlich, ich glaube, es ist ein Hirngespinst. Ich selber laufe auch einfach nur ab. Man stößt mit jemand anderes dabei zusammen. Manchmal ergibt sich daraus ein schöner Wohlklang, ein anderes mal unangenehme Disharmonie (aber wie soll ich Harmonie schätzen lernen, wenn ich nicht auch erfahre, was Disharmonie ist?). So verstehen sich Menschen gut, wenn sie "auf einer Wellenlänge" sind, das heißt aber auch: wenn sie gleich klingen. "Die Welt ist Klang", "Nada Brahma", ein tolles und außerordentlich hörenswertes Musikwerk von J.-E. Berendt.

Und auch Keppler hat sein Meisterwerk der Astronomie nicht irgendwie wissenschaftlich-planetarisch benannt, sondern er nannte es: "De hamonice mundi", also "Über die Harmonie des Weltalls". Und er hat festgestellt, daß sich die Planeten nicht einfach irgendwie zufällig und willenlos in ihre Bahnen angeordnet haben, sondern daß die jeweiligen Abstände zueinander, die Bahnradien und Umlaufzeiten musikalischen und mathematischen Gesetzen entsprechen. Das ist für sich genommen eigentlich ganz wunderbar. Wie kann der Mensch da denken, er würde nicht harmonischen Gesetzen unterliegen? (Und das scheint doch wohl das zu sein, was da so in der Gedankenwelt angestrebt wird, oder?).

Nicht der Körper handelt entsprechend des Laufes der Gedanken. So ist das nicht. Richtig ist zwar: die Gedanken sind frei. Sie können machen, was sie wollen. Aber der Körper ist der Körper. Und er ist ein musikalisches Ding, er hat sozusagen eine Eigenfrequenz, er kann "in Schwingung gebracht werden". So wie eine Brücke durch Winde in Schwingung gebracht werden kann. Wenn ein Körper in Eigenfrequenz schwingt, dann ist er unglaublich energetisch und mächtig. Und je nachdem was der Körper macht, produziert der Verstand einen unglaublichen Gedankensalat, erfindet Moral, erfindet Religionen und Gesetze. Und so folgen die Gedanken dem Körper.

Jeder Mensch ist von seiner Natur her Klang, irgendein Klang. Fußball (oder Sport im Allgemeinen) ist da ein schönes Beispiel: warum ist die Mannschaft mit den besten Spielern der Welt nicht auch automatisch die beste Mannschaft der Welt? Warum kann eine Mannschaft mit durchschnittlichen Spielern besser sein, als eine, die teilweise hochkarätig besetzt ist? Warum kann manchmal der beste Trainer aus der besten Mannschaft nichts machen? - Wegen der Harmonie. Wenn die Harmonie, die Zusammenfügung, nicht stimmt, dann nutzen die besten Einzelspieler nichts.

Und so sucht ein jeder Mensch für sich und sein Wohlergehen ein harmonisches Umfeld, ein Umfeld, in das er paßt, in dem er wachsen und gedeihen kann. So ein Umfeld wird aber nicht nach Verstandeskriterien ausgesucht (einfaches Beispiel: ich mache nicht automatisch eine Arbeit, nur weil es dafür das meiste Geld gibt). Es wird vielmehr erspürt. Man spürt es doch gleich, selbst im Kontakt mit einem anderen Menschen spürt man es sofort: Harmonie, Disharmonie.

Der freie Wille oder der Wille des Menschen allgemein, das, von dem er denkt, daß er es will und daß er selbst es wäre, unterliegt dem natürlichen Drang zur Harmonie. Der Wille kann sich eine Weile über die Gesetze der Harmonik hinwegsetzen, er kann für kurze Zeit die Spieluhr, das Aufziehmännchen, durcheinanderbringen. Aber er ändert nichts an seinem Klang, seiner Frequenz. Er kann seine Natur nicht ändern, die sein eigentlicher Wille ("Gottes Wille") ist. Wie heißt es so schön: "Den Sozialismus in seinem Lauf...". Ja, nicht mal Ochs oder Esel können das Spielmännchen - läuft es erst einmal - davon abhalten, sein Lied zu spielen.

In diesem Sinne erscheint mir der Mensch 100% determiniert. Jetzt sträuben sich die Nackenhaare. "Oh nein, Nihilismus. Determinismus. Ich? Determiniert? Ich bin frei und kann tun was ich will. Und es ist nur Feigheit und Angst vor der Freiheit, wenn man sagt, man sei nicht frei." Aber das ist ein klassisches Mißverständnis. Die Freiheit, die eigentliche Freiheit. liegt nicht darin, das Spielmännchen nach eigenem Gutdünken zu beeinflussen (meistens steckt nämlich genau da die Angst dahinter: zu sein, was man ist). Sondern Freiheit liegt darin, diesem Spielmännchen und seiner Harmonie freien Lauf zu lassen, ungeachtet dessen, was da kommen mag. Das ist Freiheit, und dazu gehört Mut. Und an der ureigenen Harmonie herumzufingern und zu versuchen, sich anderen vermeintlich besseren, schöneren Harmonien anzupassen, seine Harmonie dem Zeitgeist zu opfern (Zeitgeist ist normalerweise einfach nur die Musik, die gerade am lautesten gespielt wird), ist der klassische Selbstbetrug.

Aber man muß das vielleicht alles durchlaufen haben um zu verstehen, daß es nicht darauf ankommt, sich an Krachorchestern anzupassen, sondern seine eigene, ur-eigene Harmonie erst einmal zu entdecken, kultivieren, schätzen, leben und lieben zu lernen. Sich selbst kennenzulernen unterscheidet sich im Grunde gar nicht davon, ein Instrument spielen zu lernen (wer hätte das gedacht?). Es gehört dazu viel Erfahrung, Einfühlungsvermögen und Fingerfertigkeit - und natürlich regelmäßiges Üben. Und es gehört die Überwindung der Angst (das ist: sie für sich nutzbar machen) vor dem Auftritt dazu und dabei in Kauf zu nehmen, daß man sich auch schon mal vor allen Leuten verspielt und da auch welche dabei sein können, denen die Musik, die man macht, nicht so zusagt.

Und wenn man es kann, wenn man auf und mit sich selbst spielen kann, wenn man das Instrument, das man ist, kennt, seine Stärken, seine Schwächen, wenn man ein gewisses Repertoire drauf hat, vielleicht sogar lernt zu improvisieren, dann kommt das dazu passende Orchester ganz von selbst.

Michael

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