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Tagebuch MI
2006-02-23 14:43
Moderne Zeiten

Aus dem Disput in der letzten Woche (s. Einträge vom 13. 2.) hat sich noch ein Email-Austausch sowie eine Aussprache unter vier Augen ergeben, da noch einige Dinge in der Luft lagen, die noch nicht richtig zur Sprache gekommen sind. Insbesondere wollte meine Kollegin K. sich vergewissern, ob mein Ärger auch aus persönlichen Vorbehalten ihr gegenüber erwachsen ist.

Ich möchte die Mails hier zitieren, nicht allein als Dokumentation unserer Auseinandersetzung, bei der beide Seiten eben lernen müssen, wo der andere und jeder selbst jeweils anfängt und aufhört. Sondern ich glaube, in diesem Mailwechsel steckt noch viel mehr: es steckt darin die Veränderung der Arbeitswelt, die immer weiter zunehmenden Forderungen, die zunehmende soziale Kälte, das zunehmende Klima von Mißtrauen und Desorientierung, und nichtzuletzt die immer rücksichtslosere Ausbeutung der Arbeitskraft noch gutwilliger Arbeitnehmer.

Dies sind Dinge, über die normalerweise niemand spricht. Jeder fürchtet zu sehr um seinen Arbeitsplatz und um seine Existenz. Für solche Sachen ist kein Platz. Wir haben uns auf die Regeln der "modernen Zeiten" eingelassen, stillschweigend wird geduldet und akzeptiert, daß das alles "halt so ist", man es ja auch "nicht ändern kann".

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Die letzte Nacht habe ich zur Hälfte wach verbracht (obschon sich meine früheren Schlafprobleme sehr gebessert haben), weil mir einfach zuviele Dinge durch den Kopf gehen, ich mich auch sorge und manchmal nicht so recht weiß, wie ich auf diese Herausforderungen (ja, DAS sind doch echte Herausforderungen!) reagieren soll. Das stoische Hinnehmen von immer schlechteren Arbeitsbedingungen: immer größere Anforderungen bei möglichst nicht steigender Vergütung, stellt keine Lösung dar. Denn das wird nicht aufhören. Und auch der Gedanke, es ja irgendwann "geschafft" zu haben (es ist überraschend - besser: erschütternd, wie VIELE diesen Gedanken vor sich hertragen!), ist trügerisch. Schließlich wachsen da weitere Generationen nach. Und die kommen dann auch wieder in so ein Klima hinein und stehen früher oder später vor dem gleichen Problem.

Das eigentlich Schlimme an der Entwicklung ist für mich, daß die Gedanken zwar nach wie vor frei sind, jedoch der (die) Einzelne gar nicht mehr zum Nachdenken kommt: er ist so eingespannt und wird so zugeballert mit "Arbeit", "Infos" und "News" jeder Art, daß er vielleicht ab und an noch einen originären Gedanken bekommt, aber an die Formulierung desselben nicht zu denken ist. Auch ich schreibe tagsüber immer mit schlechtem Gewissen, weil das ja eigentlich "Privatsache" ist. Ich kann mir das aber schlechterdings aussuchen, wann gerade der Schreibfluß kommt. Und wenn er kommt, dann muß geschrieben werden, sonst klappt die Sache nicht.

Heute nacht kam mir auch noch der Gedanke, daß diese Zeit so hoffnungslos verfahren ist, daß nicht einmal mehr ein neuer Jesus noch etwas ausrichten könnte. Denn heute hätten die Menschen schlicht keine Zeit mehr, an seinem Kreuz stehen zu bleiben. Es würde sie auch glaube ich nicht sonderlich beeindrucken. Und läuft nicht im Grunde ein jeder nur an seinen eigenen Kreuzen vorbei? Und das Leben ist wie eine "Via Appia" mit lauter Kreuzen, an denen die Ideen des eigenen Lebens hängen? Und am Ende des Weges hängt man schließlich selbst am Kreuz und ist froh, wenn das Elend zu Ende ist. Das klingt vielleicht heftig, es waren die Gedanken dieser eher schlaflosen Nacht. Und ich kann das problemlos auf mich beziehen. Bei mir ist auch schon sehr viel auf der Strecke geblieben.

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Die Ausbeutung menschlicher Existenzen wird immer weitergehen. Und sie wird genau so konsequent vorangetrieben, wie alle anderen jemals erlebten Formen der Ausbeutung: von der Plünderung des amerikanischen Kontinentes nach seiner Entdeckung bis hin zur modernen Massentierhaltung. Ich würde es Ironie der Geschichte nennen, daß es doch eigentlich nur eine Frage der Zeit war, daß der Mensch schließlich mit sich selbst genauso umgeht, wie er seinen Bruder - das Tier - behandelt. Wer im Umgang mit Tieren verroht, der tut das früher oder später auch gegenüber seinesgleichen. Nur ist mir in diesem Zusammenhang nicht nach Ironie zumute.

Hier also die Mails:

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K:
Ich hatte heute morgen den Eindruck, dass Du mir nicht so richtig wohlgesonnen bist. Sollten wir uns vielleicht mal zu zweit aussprechen. Ich würde es sehr bedauern, wenn Du Dich bei der Arbeit mit mir nicht wohl fühlen würdest.

M:
Das ist sehr aufmerksam von dir, daß Du da nachfragst. Der Eindruck trügte. Ich arbeite sehr gerne mit dir zusammen. Mein Problem ist nur dieses Hin- und Hergerissensein zwischen den beiden Anforderungen, und dann nebenbei noch krank, die drei Kinder, das Vertragsende, die Bewerbungen usw. Das ist sehr anstrengend. Aber jeder streckt irgendwie immer irgendwo drin und irgendwozwischen, ich will da keine Sonderrolle draus machen.
Tatsächlich ist es speziell hier in SF einiges anstrengender geworden, seit D. und H. G. weg sind und A. und T. das Ruder übernommen haben. Und die neue Instrumentbroschüre ist auch so ein großes Projekt, das ich mehr oder weniger alleine vorantreiben muß.
Vielleicht sollten wir da wirklich mal drüber sprechen, daß Du auch solche Ausbrüche wie zuletzt in der Besprechung zumindest nachvollziehen kannst. Ich bin dann einfach übermäßig gereizt und weiß manchmal nicht, wo ich die Grenze ziehen soll.

(Daraufhin bin ich zu ihr gegangen. K. hat vorher noch die folgende Mail geschrieben, die ich dann nach dem Gespräch gelesen habe:)

K:
Lieber Michael,
ich weiss nicht, was in der Welt los ist, dass sich die Arbeit so verdichtet. Ich habe in der letzten Woche auch zum Teil bis abends um 8 Uhr hier gesessen und es interessiert kein Schwein, ob das alles noch zu schaffen ist oder nicht. Mein Arbeitsumfeld ist nicht gerade warmherzig uind anteilnehmend zusammengestellt, wenn nicht M. und C. da wären würde ich hier wohl einfrieren.
Ich weiss auch von anderen im Haus, dass sich deren Arbeit stark vermehrt hat. Das geht auch oft mit dem Gefühl einher, dass man besser und schneller sein müßte, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Was man schafft zählt oft nur halb und das, was man nicht schafft, doppelt. Ich finde das nagt sehr am Selbstgefühl und an der Lebensqualität.
Ich kann mir gut vorstellen, dass dann abends mit den Kindern auch wenig Entspannung aufkommt und auch das in Deiner Abteilung die Hackordung neu festgelegt wird, wenn neue Führungskräfte da sind.
Schön, wenn Du Dich nicht über mich ärgerst, aber Du kannst Dich schon auch über mich ärgern, vielleicht bin ich in meinem Bestreben, es möglichst gut zu machen, auch manchmal fordernd oder bestimmend. Bitte bringe Deine Bedürfnisse, Ideen und Bedenken in die Diskussion ein. Ich möchte, dass auch tun können ohne Sorge haben zu müssen, dass Du unzufrieden bist. Und ich möchte auch widersprechen können, wenn ich anderer Meinung bin. Man kann sich über den Austausch von Argumenten schon irgendwie annähern und verständigen. (...)
Schöne Grüße
K.


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Das Gespräch mit K. war sehr ergiebig. Insbesondere hat sie mir gesagt, daß mein Ausbruch letztlich gar nicht so schlecht gewesen wäre. Sie hätte dadurch Energie bekommen, in ihrer Gruppe und vor ihrem Vorgesetzten energischer und bestimmter aufzutreten. Und es hat offenbar den (bis dahin sehr zähen) Entscheidungsprozess beflügelt.

Ich habe vor einiger Zeit auch mal von einem früheren Studienkollegen eine Mail erhalten, in der er kurz aufblitzen ließ, was in ihm vorgeht. Eigentlich beneide ich ihn, denn er hat geschafft, was ich doch immer angestrebt habe: einen Job in der Industrie und ein Haus zum Abbezahlen. Im Grunde waren wir beiden damals immer gleichauf. Doch irgendwann zündete er so einen Turbo und war plötzlich mittendrin im industriellen Geschehen, während ich immer noch an der Uni als Assistent herumgurkte und meine Jahre dahinflossen.

Er hat mir in Anbetracht seiner Situation geschrieben, daß er die "100% Fremdbestimmtheit seines Lebens" satt hätte. Auch so etwas fällt nur hinter vorgehaltener Hand, im Grunde ist selbst so eine Mail ein Versehen und würde im Nachhinein wahrscheinlich heruntergespielt werden. Dennoch ist es wohl für die allermeisten Menschen eine bittere Wahrheit. Und gerade deswegen so unaussprechlich.

Michael

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