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Tagebuch MI
2006-08-19 11:23
Märchenumschreibung
So wie es ausschaut, muß das Märchen über "Des Kaisers neue Kleider" für die heutige "aufgeklärte" Zeit umgeschieben oder ergänzt werden. Bisher lautet das Ende: ..."Aber er hat ja gar nichts an!" sagte endlich ein kleines Kind. "Hört die Stimme der Unschuld!" sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte. "Aber er hat ja gar nichts an!" rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: ,Nun muss ich es aushalten.' Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war. Das ist sehr gut und hübsch, aber eben nicht mehr "zeitgemäß". Selbstverständlich ist der Kaiser heute auch nackt, er hatte im Grunde noch nie Kleider an. Es ist nur so, daß ihm das nun überhaupt nicht mehr peinlich ist. Er weiß, daß es so ist, er gibt ganz offen zu, daß er nackt ist. Er ist ganz ungeniert nackt. Und das Volk? Müßte es nicht schreien? Müßte es nicht johlen? Nein, das Volk stört sich nicht daran. Es weiß zwar auch, daß der Kaiser nackt ist. Jedoch den einen ist es egal ("Der macht doch sowieso, was er will"), ein paar wenige sind zurecht erbost und hören nicht auf, die Lügerei zu brandmarken. Das Schauerliche ist jedoch der Teil des Volkes (und dazu gehören offenbar die meisten), der steif und fest behauptet, daß der Kaiser ja wohl Kleider anhätte. Diese Menschen sind es so gewohnt, daß der Kaiser Kleider anhat (er hat wirklich welche an), daß es ihnen nicht möglich ist, den Kaiser ohne Kleider zu sehen. Sie wollen die Wahrheit nicht wissen, sie wollen belogen werden, sie wollen die Kleider sehen. So, als hätten sie ein Anrecht darauf, daß der Kaiser Kleider anhat. Vermutlich weil sie innerlich wenigstens doch irgendwie ahnen, wie schwer zu ertragen der Anblick der nackten Wahrheit ist. Michael Kommentare |
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