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Tagebuch MI
2006-09-06 18:58
In letzter Konsequenz (4)
Ich habe gestern abend im Zweiten Deutschen Fernsehen eine sehr interessante Reportage ("37°") mitverfolgt. Es ging um das Thema "Geld wie Heu" und um Menschen, die genau soviel davon haben.

Dabei wurden zwei völlig unterschiedliche Situationen und Charaktere vorgestellt. Der eine, "self-made"-Multimillionär, die andere Multimillionenerbin. Er also durch "eigene Hände Fleiß" an sein Vermögen gekommen, sie durch ihre Geburt. Es handelte sich bei den beiden Personen um den Chirurg und Betreiber einer Klinik für Schönheitschirurgie am Bodensee Prof. Mang und um die Erbin des verstorbenen Firmeninhabers und -gründers "Bosch".

Er macht aus seinem Reichtum keinen Hehl: Yachten, eine schöne Autosammlung (von Aston Martin bis Rollce Royce alles dabei), luxuriöse Wohnsitze an den schönsten Flecken der Welt, Privathubschrauber, "High Society"-Leben.

Sie ganz anders: nämlich schwäbisch. Auch schon einmal die Brötchen von gestern kaufend, weil die günstiger sind. Nicht aus Geiz, sondern einfach weil sie günstiger sind. Einfache Bleibe, verheiratet mit einem Kirchenmusiker, Kirchenchormitglied. Man zeigte sie, wie sie ihren Salat per Handtuch draußen trocken schleuderte. Ein Mensch wie Du und ich.

Er hat kein Problem mit seinem Reichtum. Wer gute Arbeit leistet, soll dafür auch gut bezahlt werden. Wer gut bezahlt wird und reich wird und ist, der soll sein Geld auch ausgeben können und es zeigen können. Er ist "workaholic", seine Tage: minutiös verplant. Keine Zeit für Spontanes, höchstens für geplantes Spontanes.

Sie macht sich viele Gedanken über ihren Reichtum. "Eigentum verpflichtet" sagt sie. Sie wird von Fachleuten durch ihren Firmenbesitz und Forschungslabors geführt wie Politiker durch eine öffentliche Forschungseinrichtung. Genauso wie diese versteht sie nicht, was dort gemacht wird. Es gehört ihr "halt nur", sie finanziert das, was, so könnte man wohl sagen, das Problem ist. Sie gründet viele Stiftungen, auf einer Karte steckten Fähnchen an allen Stellen, wo ihr Geld in gute Werke fließt.

Ungerecht findet sie das System schon, aber ändern kann sie es auch nicht. Sie will das Beste aus der Situation machen und ansonsten eigentlich nur ihr einfaches, friedliches Leben führen.

Er macht sich über Ungerechtigkeiten keine Gedanken. Er kommt von unten, weiß wie das ist. Er hat gezeigt, daß es geht: mit Wille, Fleiß und auch mit Können. Er ist seinen Weg konsequent gegangen und er weiß für sich, daß es prinzipiell jeder schaffen kann. Wäre er nicht Chirurg geworden, sondern Autohändler, so sagte er, dann hätte er heute halt 100 Autofilialen. Er wäre eben so. Er verdient mit Schönheitschirurgie in einer Stunde soviel, wie ich in einem Monat mit Wissenschaft und Bildung.

-

Wie hat das alles auf mich gewirkt? Ich habe hier viel über "Modernen Feudalismus" geschrieben, über die falsche Verteilung von Geld, Eigentum und Einkünfte. Über moderne Feudalstrukturen als die eigentliche Ursache der Malässe. Wie kann jemand Multimillionär sein und gleichzeitig 5 Millionen Menschen arbeitslos? Jedes siebte Kind lebt in Deutschland an oder unter der Armutsgrenze, "Bildung für Reiche" breitet sich aus, "Wer hat, dem wird gegeben", danach läuft’s. Oder auch: "Der Teufel scheißt immer auf den dicksten Haufen".

Der erste und eigentlich auch bleibende Eindruck war: gegenüber der Frau habe ich fast so etwas wie Mitleid empfunden. Ja, sie tat mir leid mit ihrem ererbten Vermögen. Ich hatte den Eindruck, als wäre es eine unsägliche Last für sie, keine Erbschaft, sondern eine Bürde. Sie kann es nicht ablehnen, es gehört ihr nun einmal. Aber sie ist nur Verwalterin der Millionen, sie hat keine Freude daran.

Gegenüber dem Mann konnte ich noch nicht einmal mehr Neid empfinden. Neid empfinde ich, wenn sich jemand ein hübsches, geräumiges Häuschen mit einem Auto und dazu auch noch einen jährlichen Urlaub (oder gar zwei!) mit seiner Familie leisten kann - und am Ende noch Zeit für sie hat. Wenn vielleicht noch die Großeltern in der Nähe wohnen und ab und zu mal auf die Kinder aufpassen, so daß die Eltern mal rausgehen können. Oder auch wenn diese Dinge teilweise zutreffen, jedenfalls in einem spürbar anderem Maße als bei mir.

Aber dieser Mann, der war so was von weit von mir entfernt, so unvorstellbar weit, daß ich eigentlich nur noch sprachlos war. Ich bemerkte dabei eine heimliche Bewunderung. Was ich zumindest meinte bemerkt haben zu können (ja, siehe da, wie vorsichtig ich werde), das war, daß es sich bei diesem Mann nicht einfach nur um einen ekeligen Reichen handelte, der weder für sich, noch für andere Geld ausgeben mag. Der gar noch bei ALDI einkauft, um seinen Reichtum nicht unnötig zu dezimieren

Er war keiner, der auf seinem Reichtum hockt wie die Henne auf den Eiern, und auch keiner, der unter seinem Reichtum leidet. Fast - so blöd das vielleicht jetzt klingen mag - hatte er etwas Göttliches an sich. Der wußte genau, wo er steht, was er hat, was er will, und - nicht zuletzt: was er wert ist. Ich konnte das einfach nur bewundern, und sonst gar nichts.

Wenn ich die Wahl hätte: so ein Leben würde ich gerne einmal ausprobieren. Ich würde gerne einmal wissen, wie das ist, wenn man soviel Geld hat, daß man sich bzw. seiner Frau mal soeben einen Aston Martin zum Geburtstag schenken kann. Ich muß aber andererseits auch sagen: mehr als probieren möchte ich es auch nicht. Mir würde ein Tag im Leben dieses Herrn genügen, einfach mal das Gefühl dieses unermeßlichen Reichtums spüren und schmecken. Es muß wohl wie eine Droge sein.

Ändert daher auch nichts. Ändert nichts an Sterblichkeit, am täglichen Einerlei, am Aufstehen, Frühstücken, Arbeiten, Essen, Stuhlgang, Schlafen gehen. Bis der Tag kommt, der auf alle früher oder später wartet. Ausprobiert hätte ich auch - vielleicht ist das eine Parallele, das weiß ich nicht, ich muß nur daran denken - eine Zeit großer sexueller Freizügigkeit. Ich hätte auch da gerne einmal erfahren, wie das ist.

Wie das ist, wenn alle kulturimprägnierten Schranken wegfallen, und ich dabei selbst alle Grenzen ausprobieren kann, merken kann, fühlen kann. Keine künstlichen Grenzen, keine aufgedrängten, anerzogenen Grenzen, sondern echte, selbst erforschte. (Da hat mich die Stelle im Prometheus sehr beeindruckt, als von dem Lehrer die Rede war, der ebendies seinen Schülern ermöglichte).

Ich habe leider das Gefühl, mit einer "gedeckelten" Sexualität zu leben. Immerhin: E. und ich haben wieder miteinander geschlafen. Es war im Urlaub, eine goldene Gelegenheit, ein kurzes Zeitfenster, das sich auftat, es ergab sich ganz zwanglos und ebenso schön war es. Doch nun ist wieder Alltag, und der bietet nicht viele Gelegenheiten. Es ist, wie wenn man wieder in die alte, vorgeformte Rolle zurückfällt, "Ach, so war das ja".

Ich weiß nun wirklich nicht, inwiefern das alles zusammenhängt. Es ist zumindest die Gemeinsamkeit da, daß ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Sexualität nicht mehr "kulturfrei" werde erfahren können, vermutlich genausowenig, wie ich jemals so unvorstellbar reich sein werde, wie dieser Prof. Mang.

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Dem schließt sich die nächste Frage an: Ist das ein bzw. wo ist das Problem? Auch in meinem Leben gibt es Dinge, von denen andere träumen, ohne sie zu haben. So ist das Leben eben. Von einem Problem habe ich bisher ja auch nicht gesprochen, es ist kein Problem, sondern: dies ist eine Tatsache. Tatsachen sind keine Probleme, sondern Fakten, sie sind einfach. Probleme tauchen erst auf, wenn ich mich an Tatsachen reibe. Ich kann sie auch einfach akzeptieren und habe dann kein Problem. Aber auch dies ist nicht so einfach. Es gibt im Grunde nur eines, das ich akzeptieren kann: nämlich das ich immer mal wieder Akzeptanzschwierigkeiten habe.

Ich kann mich durchaus an Tatsachen reiben, aber dennoch damit im Frieden sein. Denn: ich muß mich ja nicht an der Tatsache reiben, daß ich mich an Tatsachen reibe. Und in der Tat scheint mir hier ein Schlüssel zu einem unverkrampften Dasein zu liegen.

Und was ich zuletzt nicht unerwähnt lassen möchte: meine ganzen "Meudalismus"-Gedanken schmolzen bei diesen beiden Menschen dahin. Bei der einen war es eindeutig: die kann weder etwas dafür, noch nutzt sie ihre Situation auf Kosten der Armen aus. Bei dem anderen fällt mir nur PeterLicht ein: "Da kann man nix machen". Und da würde ich auch gar nichts machen wollen. Wenn die Leute nun einmal bereit sind, soviel für ihre Schönheit zu bezahlen, und wenn sie das Geld dafür haben und dieser Mann das offenbar auch so gut macht: dann paßt hier eins zum anderen und dann soll es so sein. Dann ist es richtig (richtig ist - in letzter Konsequenz - sowieso alles).

Es bleibt: diese beiden Superreichen sind nicht die Schuldigen an den kollektiven Mißständen. Und es bleibt auch eine "Befürchtung" und etwas, das ich schon unter anderen Umständen - im Zusammenhang mit meinen Eltern - kennengelernt habe: die vergebliche Schuldsuche. Wie konnte es geschehen? Eine Frage, die irgendwann ins Nichts führt.

Denn je mehr ich einer Spur nachgehe, die zu einer möglichen Schuld führen könnte, je näher ich mir den einzelnen Menschen ansehe, an dem es liegen könnte, je mehr ich mich mit seinen Lebensumständen befasse, mit seinen einzelnen Entscheidungen, desto weniger finde ich noch Schuld, desto leerer wird alles. Da ist dann einfach nichts mehr.

(Was bedeutet: finde ich noch Schuld, dann habe ich den Sachverhalt nur noch nicht genügend aufgelöst)

Der Sachverhalt gilt auch für die andere Reiserichtung, also nach Innen, die letztlich keine andere ist. Und in dieser letzten Konsequenz gibt es dann offenbar nur noch eines: kann ich akzeptieren, was ich sehe, oder nicht?

Michael

Kommentare

15:52 07.09.2006
Hallo anderer Mo, dein Kommentar hat mir gefallen, insbesondere ist hier meine Bewertung der Situation aufgetaucht, da ich von Schuld sprach, obwohl ich eigentlich nur Ursachen suche. Ist scheinbar, was mich angeht, auch so ein Dauerbrenner.
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09:35 07.09.2006
Das die Schuld schwerlich bein Einzelnen zu finden sein wird, ist angesichts der Masse der Beteiligten an den Machtstrukturen wohl erklärlich. Dennoch wäre es falsch, dann von keiner Schuld zu sprechen, wenn diese nicht eindeutig zugeordnet werden kann. Schuld ist ja nur die moralische Wertung von dem Konzept Ursache-Wirkung. Und die Kausalität ist notwendigerweise da, sie ist ebenso gerichtet, sie ist Intention. Es ist kaum Zufall das sich das System so passenderweise immer mehr zum Vorteil der Vermögenden ausbildet. Insofern hat jeder soviel Verantwortung, wie sein Anteil an den Machtstrukturen ist. Für den einzelnen heißt es dann eher, die Verantwortung im Kleinen wahrnehmen zu müssen. Von denjenigen, die bedeutenden Anteil an der Macht haben (wie Politiker, Spitzen der Wirtschaft) ist dagegen nichts zu erwarten, denn sie sind i.R. institutionalisiert, naturgemäß so im System eingebunden, dass ihre Ämter zwar vordergründig die Macht versammelt zu haben scheinen, aber die Amtsinhaber selber so selten frei in ihrer Ausübung sind. Sie sind eher die personifizierten und institutionalisierten und hinsichtlich ihrem Handeln eher automatisierten Sammelstellen vieler, meist zueinander konformer Machteinflüsse. Insofern bleibt einem nur die Ratlosigkeit, denn einen trivialen Weg das System zu ändern gibt es offenbar nicht, sonst wäre er in unserer Demokratie schon längst erwählt worden.
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20:26 06.09.2006
Hi moritours,
an die entsprechende Kundschaft habe ich auch schon gedacht. Ohne modernen Feudalismus hätte dieser Chirurg sicher erst gar nicht so reich werden können. Es muß da eben eine (gewachsene) Schicht geben, die soviel Geld hat, das dafür auszugeben.
Nur: was will machen? Anscheinend hat nicht einmal Dr. Wo alles genau verstanden. Es gibt da eine Vorstellung von Netto-Geld, von der alle ausgehen. Nur Netto-Geld wie bei Monopoly gibt es realiter nicht. Geld ist immer eine Schuld, die bedient werden will (ich habe das auch alles noch längst nicht verstanden). Und damit setzt sich der ganze Teufelskreis automatisch in Gang.
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19:44 06.09.2006
hm...ich habe die sendung zwar nicht gesehen, aber
- doch eine anmerkung...:
diese beiden sind nicht unbedingt persönlich das problem
- aber teil der struktur.
selbst wenn die erbin nicht persönlich daran interessiert sind:
in ihrem auftrag sind stiftungsverwalter tätig, die natürlich an
einer vermehrung des geldes interessiert sind etc...
ebenso wie dieser schönheitsprof :
man könnte das, was er tut, natürlich auch
expropriation der expropriateure nennen..
aber das reichliche geld, womit er gefüttert wird, stammt sicher
auch von der reichen fabrikantengattin, die deshalb so reich
ist, weil ihr gatte etliche leute in hartz IV geschickt hat etc.
- natürlich vereinfacht - aber es liessen sich etliche wege darstellen,
wie das geld von "armen" in die taschen der beiden geraten ist.
...letzlich sogar durch senkung der spitzensteuern bei
gleichzeitiger erhöhung der mehrwertsteuer...
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