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Tagebuch MI
2005-04-22 15:15
Gereizt
Ich habe derzeit zwei Messgäste, einer aus Warschau, der andere aus Minsk (Weissrussland). Der Gast aus Warschau ist ein alter Bekannter, ein in Polen nicht unbedeutender Physiker, der den Vorsitz der dortigen "Akademie der Wissenschaften" inne hat und der mich auch schon einmal nach Warschau an sein Institut eingeladen hat. Eine Einladung, die ich vor zwei Jahren etwa gerne angenommen habe.

Er hat diesesmal einen jungen Wissenschaftler aus Weissrussland mitgebracht. Ich bin normalerweise immer sehr aufgeschlossen, wenn es darum geht, jüngere Wissenschaftler an die Neutronenbeugung heranzuführen. Es gab im Vorfeld Probleme mit dem Visum - ohne Visum bekommen die Gäste aus sogenannten unsicheren Drittstaaten keinen Hallenzugang -, was dazu führte, daß besagter Gast nur in meiner Begleitung in die Halle und auch beim Experiment nicht mitmachen darf, ein gewisser Mehraufwand für mich. Ich habe aber gesagt, daß das für mich in Ordnung sei.

Gestern hat uns mein polnischer Gast zum Mittagessen eingeladen, es lief an sich bis dahin alles ganz gut. Auch ist dieser immer sehr bedacht darauf, die Messzeiten nicht ausufern zu lassen, weil er weiß, daß ich Familie habe, und er sagt selbst dann schon mal, daß ich doch dann und dann sicher nach Hause zur Familie gehen will und nimmt mir damit ab, es selbst sagen zu müssen. Das kommt mir sehr entgegen. Denn natürlich kommt es schnell zu ungewöhnlichen Messzeiten, abends, am Wochenende usw., und wenn es geht, möchte ich das vermeiden.

Dem jungen Weissrussen ist das freilich nicht so wichtig, wann ich nach Hause komme. Ihm geht es um seine Messungen. Ich hatte so etwas insgeheim schon befürchtet. Und so kommt es jetzt zu Messzeiten, die ich nicht mag. Aber das alleine ist auch nicht unbedingt der Punkt. Ich bin im Grunde immer darauf vorbereitet, daß es zu Überstunden kommt, wenn ich Gäste habe, und in der überwiegenden Zahl der Fälle macht es mir nichts aus. Was mir schwer fällt ist, wenn ich Überstunden für Gäste machen muß, die mir unsympatisch sind.

Es geht immer hin und her mit dem jungen Weissrussen und irgendetwas mag ich an ihm nicht. Vielleicht dieses Gefühl, das ich bei ihm habe, daß ich ihm zwar helfen kann, daß er dann aber wieder etwas hat, wo er auch noch Hilfe braucht oder mich braucht oder etwas braucht, ein Programm, eine CD, einen Zugang, und ich sehe keine oder besser: hätte gerne mehr Dankbarkeit dafür (und immerhin bekommt er hier ein Tagegeld, das einem zweifachem seines Monatsgehaltes entspricht und die Reisekosten werden ihm auch erstattet).

So daß ich bald dazu neige, seine Fragestellungen ins Leere laufen zu lassen. Die Verständigung ist auch manchmal schwierig, der junge Mann nuschelt eher englisch, als daß er es spricht. Und er hat diese merkwürdige seelenlose Art, die ich nicht selten bei Wissenschaftlern aus den östlichen Ländern antreffe, eine Art, gegen die jeder Deutsche eine Wärmequelle ist. Und manchmal habe ich den Eindruck, daß er auch nicht so recht weiß, was er eigentlich will.

Und so steigt langsam aber sicher in mir die Ungeduld und Gereiztheit, ich merke das an meinem Hals, der sich dann regelrecht zusammenzieht, speziell wenn auch noch das Instrument mal nicht so läuft, wie ich das geplant habe, was ich mir natürlich ankreide. Schließlich bemerkt das mein polnischer Gast, mit dem ich bisher immer sehr gut zusammengearbeitet habe. Ich kann es einfach nicht verbergen, wenn ich irgendwann doch etwas angestrengt bin und mir langsam die Motivation ausgeht. Es kann im Grunde niemand etwas dafür, was kann einer schon für seine Art? Trotzdem fühle ich mich schuldig, sage mir, ich sollte geduldiger sein, verständnisvoller, entgegenkommender, gastfreundlicher und der Weissrusse sollte mir auch nicht unsympatisch sein und wenn er es denn ist, dann sollte ich trotzdem so tun, als wäre das kein Problem. Und schaffe es nicht.

Meist verlaufen die Messaufenthalte ja gut, aber manchmal ist der Wurm drin und es ist nicht viel daran zu retten. Ich kann es nur noch irgendwie hinter mich bringen und bin im Grunde unzufrieden, weil für mich der Gast, wer auch immer es ist, eigentlich König ist. Doch ich halte es ab einer bestimmten Stelle nicht durch und man merkt es mir an.

MI


[Bild nicht gefunden]

Nachtrag: kaum habe ich das geschrieben, stellt sich heraus, daß ich heute doch pünktlich gehen kann. Und schon sieht die Welt wieder ganz anders aus. Sonnig nämlich.


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