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Tagebuch MI
2005-06-05 10:31
Ganz normale Leute
Anmerkung zu diesem Text: ich weiß nicht, wieso ich das so geschrieben habe, wie es da steht, ich habe es so runtergeschrieben, wie es da ist. Meiner Meinung nach kommt da etwas durch, das ich lange Zeit nur passiv aufgenommen habe, aber nie weiter artikuliert habe. Wenn so etwas, das lange in mir schlummert, dann doch plötzlich hochkommt, kann es dann auch etwas heftiger werden, als es eigentlich ist. Ein typischer Fall, wo man hinterher sagt, daß es so doch auch nicht gemeint war. Ich lasse den Text trotzdem stehen, weil er eben auch zu mir gehört.

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Es gibt sie noch, die ganz normalen Leute. Man erkennt sie daran, daß ihre Kinder immer noch mit ihnen zu tun haben wollen, obwohl sie 14, 16 oder 18 sind und eigentlich doch - rebellieren müßten, Drogen nehmen müßten, schludrig aussehen müßten, ständig am Handy hängen müßten, gepierct sein müßten, gar nicht da sein müßten, weil sie die Welt und ihr Leben ganz und gar unerträglich finden.

Die Kinder müßten eigentlich Schwierigkeiten in der Schule haben (oder ganz besonders gut sein), müßten so einen leeren Blick haben, müßten orientierungslos dreinblicken, müßten in Wartestellung sein, warten auf den, der sie entdeckt. Der sie aus ihrer Orientierungslosigkeit herausholt, der ihnen sagt, wo es lang geht.

Sie müßten auf eine gewisse Weise unnahbar sein, in ihrer eigenen Welt leben, mit Erwachsenen nichts zu tun haben wollen, nur notfalls, wenn es halt nicht anders geht. Sie müßten um andere (zumal kleine) Kinder einen großen Bogen machen, sie würden ihr Handy niemals einem Fünfjährigen in die Hand geben, damit er sich den Film ansehen kann, auf dem er gerade ist.

Sie könnten nicht einen ganzen Nachmittag mit ihrer Mutter oder ihrem Vater im Hinterhof sitzen und sich mit ihnen und den Nachbarn angeregt unterhalten. Sie wüßten gar nicht, worüber sie eigentlich sprechen sollten. Sie würden das alles langweilig finden.

Es gibt sie noch, die ganz normalen Leute. Wo der Vater vor Jahren schon auf die Karriere verzichtet hat, damit er für seine Kinder Zeit hat. Ich sehe ihn immer mal wieder, wie er mit seinem Sohn von einer Fahrradtour zurückkommt, die beiden unternehmen sehr viel miteinander.

Wenn man solchen Leuten begegnet, also, es dauert wirklich erst einmal eine ganze Weile, bis ich das wirklich begriffen habe, daß da gerade ganz normale Leute vor mir sitzen, die nicht angeben, nicht in Selbstdarstellung verfallen, nicht dauernd jammern und klagen - sich der gegenwärtigen und kommenden Schwierigkeiten aber voll bewußt sind.

(Wir sprachen darüber, ob ich mit der Familie in B. bleiben wolle. Ich sagte, daß ich manchmal daran denke, das Land zu verlassen. Vielleicht nicht wegen mir, aber wegen der Kinder. Sie sagte mir daraufhin sinngemäß, daß es auf dem ganzen Planeten wohl keinen Platz gibt, bei dem einen nicht irgendwann doch das einholt, weswegen man einen anderen Platz zuvor verlassen hat)

Die nicht in allem, was ein anderer sagt, möglicherweise einen Vorwurf finden, die sich nicht reflexartig verteidigen (und man versteht in solchen Fällen ja nie, wieso) , bei denen die Welt vielleicht nicht heile und rosarot ist, aber sie ist in Ordnung.

Es gibt sie noch, die Menschen, die es schaffen, sich mit anderen Kindern in den Sandkasten zu setzen und mit ihnen zu spielen, ohne einen Staatsakt daraus zu machen, die einfach nur da sind, ohne daß sie aber schlafen würden, die religiös sind, ohne fromm zu sein, die nett sind, ohne allzunett zu werden. Die durchaus auch weich werden können, wenn es an Stellen geht, die ihnen mulmig sind. Die deswegen aber nie in eine Verteidigungshaltung verfallen würden.

(Die Frau erzählte mir, sie hätte jetzt ihr eigenes Zimmer und würde also nicht mehr bei ihrem U. schlafen, und erklärte mir auch warum: da wäre das Schnarchen, ihr nächtliches Wachwerden und Aufsklogehen usw, alles in allem das gegenseitige Davonabhalten, gut zu schlafen. Ich sagte ihr daraufhin, daß das bei E. und mir schon lange so wäre, aus den gleichen Gründen, und ich das sehr genießen würde (wieder) allein zu schlafen. Sie nahm das mit einer gewissen Erleichterung zu Kenntnis)

Deren Kinder zwar in Diskotheken gehen, dort aber keine Getränke annehmen, die sie von irgendwoher "spendiert" bekommen (dort seien nämlich alle möglichen Drogen drin, erzählte mir die Tochter, damit wolle sie nichts zu tun haben). Die nicht anfangen zu rauchen, nur weil alle anderen das auch tun. Die sich nicht alle möglichen Fernsehserien ansehen, nur um mitreden zu können. Bei denen im Innersten etwas da ist, das verhindert, daß sie auf die schiefe Bahn geraten.

Ganz erstaunlich fand ich das, und wohltuend. Obwohl es wirklich so etwas von normal ist.

MI



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Kommentare

10:47 06.06.2005
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Ich habe eine klare Reaktion auf diesen Eintrag erhalten. Das was dieser Eintrag tatsächlich aussagt, ist wohl eher etwas über mich, was ich vielleicht nicht unbedingt an mir mag.
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21:21 05.06.2005
Ich habe manchmal ein bißchen Angst, daß ich sehr moralinsauer klinge. Und vielleicht stecken da auch einige Vorurteile von mir drin, was Kinder, Jugend und Eltern anbelangt. Andererseits habe ich nur alles 1:1 so wiedergegeben, wie es mir während dieses Nachmittags durch den Kopf ging und vielleicht liegt die Schwere darin, auch zu glauben, was man sieht. Schönen Abend noch.
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unbekannt
20:32 05.06.2005
Ich hatte genau das Gegenteil an Erlebnis. Schön zu lesen, dass es doch noch sowas wie Normalität gibt.
LG Stephan75


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