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Tagebuch MI
2006-04-06 16:13
Fragen
Durch eine mail einer ehemaligen Praktikantin wurde ein Gedanke bzw. eine Frage in mir ausgelöst, und die lautet:

Haben all diese Bewertungen, die ich jemals auf mich nehmen mußte, denen ich mich unterwerfen mußte, hatten all die Noten, die Zeugnisse, die Prüfungen, die Klausuren, die Scheine, das Rigorosum, hatte das alles überhaupt einen Sinn? War das wirklich notwendig, damit ich dahinkomme, wo ich jetzt bin? Damit ich das kann, was ich jetzt kann? Und nicht irgendwohin komme, wo ich vielleicht nicht sein will?

Oder wäre es auch anders gegangen? Hätten meine Neugierde und Wißbegierde - zwar stimuliert, aber doch frei und sich selbst überlassen - vielleicht völlig ausgereicht, um all das zu erlernen und zu können, was ich heute weiß und kann? Wäre es vielleicht gar nicht nötig gewesen, mich andauernd zu prüfen und zu überprüfen? Meinen Leistungsstand zu testen und meinen Wissensstand abzufragen? Leistungsnachweise zu verlangen, Abschlußnoten zu geben?

Wäre all der damit verbundene existentielle Druck vielleicht gar nicht notwendig gewesen, mich anzutreiben, das Optimale aus mir herauszuholen? Hätte ich mir all die Angst davor, abzurutschen, keine guten Leistungen mehr zu bringen, nicht gut zu sein, keine Arbeit zu finden, keine Existenz zu haben und gründen zu können, sparen können?

Wäre ich auch ohne alle diese Bewertungen dorthin gekommen, wo ich heute bin? Hätte meine eigene innere Kraft - richtig angesprochen und stimuliert, solange noch die eigene Orientierung fehlt - dafür völlig ausgereicht, locker und ohne übertriebene Anstrengung und Versagensängste den Weg zu gehen, den ich gegangen bin?

Wäre ich heute ohne jemals bewertet worden zu sein, auch in der Lage, ein kompliziertes Meßgerät zu bedienen, konzentriert zu arbeiten, auf einen zeitlichen Termin eine Arbeit fertigzustellen, in klare und kurze und verständliche Worte zu fassen, was sonst unklar, lang und unverständlich ist?

Wäre ich heute ohne jemals bewertet worden zu sein, in der Lage, einen Brief zu schreiben, eine Steuererklärung auszufüllen, eine Wohnung zu suchen, eine Familie zu gründen, einen Praktikanten zu betreuen, ein Auto zu fahren, Englisch zu sprechen, eine Wand zu tapezieren, Musik zu machen, ein Gespräch zu führen?

Oder könnte ich gar all das heute vielleicht sogar besser oder: mit ganz natürlichem Ausdruck, wenn ich niemals bewertet worden wäre? Weil ich mir nicht ständig störende Gedanken darüber mache würde und müßte, ob ich etwas gut oder schlecht mache, zu schnell oder zu langsam, zu detailliert oder zu oberflächlich? Sondern weil ich es einfach nur machen würde, so, wie ich es sowieso machen würde und wie ich es auch gar nicht anders machen kann, weil ich alles, was ich tue, immer nur genauso machen kann, wie ich es eben tue und überhaupt nicht anders?

Warum denn dann etwas bewerten, was gar nicht anders sein kann, als so, wie es ist? Wie kann da etwas gut oder schlecht sein? Wie kann da etwas zu schnell oder zu langsam sein? Zu detailliert oder zu oberflächlich?

Warum wurde all das nur bewertet?

Und tatsächlich war es für mich einer meiner größten Schocks, als ich nach meiner letzten - meiner wirklich allerletzten Prüfung - wußte, daß ich ab heute nie wieder eine Note für irgend etwas bekommen würde. Der Schock bestand darin, daß ich erst jetzt wirklich merkte, wie groß an meiner Gesamtmotivation der Wunsch nach bzw. Druck zu einer guten Bewertung war. Und wie wenig ich selbst von alledem, was ich tat, wirklich gewollt hatte. Ja, wie wenig ich überhaupt wußte, was ich selbst eigentlich wollte.

Michael

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P.S.: Diesen Text habe ich vorhin zufällig wiedergefunden, ich hatte ihn gar nicht ins Tagebuch gestellt. Ich weiß gar nicht, warum. Aber schön, etwas von sich selbst wiederzufinden, das einen selber berührt.

Kommentare


unbekannt
10:44 14.04.2006
Amen

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10:30 14.04.2006
> Ich finde vieles ließe sich auf weniges reduzieren.

Hm, reduzieren läßt sich immer alles.

> Etwas Spiritualität deiner Wahl täte dir ganz gut, glaube ich...

Das klingt sehr gut.

Grüße und schöne Feiertage,
MI
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unbekannt
08:59 14.04.2006
Die Bewertung erfolgt durch die stillschweigende Übereinkunft, dass so nur diejenigen an die Macht kommen, die genügend Leistung oder Anpassungsfähigkeit zeigen. Ich habe nur ein paar deiner Texte hier gelesen. Ich finde vieles ließe sich auf weniges reduzieren. Etwas Spiritualität deiner Wahl täte dir ganz gut, glaube ich...
...den Druck habe ich vor meiner Schizo-Phase auch gebraucht, ich war unter den Besten. Doch was nützt das? Etwa, um später die Geldscheine in meiner Hand zu zählen?
Wie wäre es all diejenigen Menschen aufzulisten und zu umarmen, die wirkliche Bedeutung und Tiefe in deinem Leben erlangen?
Was bleibt denn, wenn du später alt und wackelig im Altersheim sitzt oder von deiner liebsten gepflegt wird? Der alleinige Gedanke an Selbstfindung ist richtig. Das muss aber nicht immer unter Ausschluss der Gemeinschaft gehen, sollen wir doch alle einen Weg gehen. Nicht wie heute, wo die Gesellschaft sich in alle Richtungen vermehrt und "kultiviert", um später so wie ein Krebsgeschwür dazustehen.
Hoffentlich wird dieser Krebs nicht chronisch, sonder bald ganz geheilt.

Liebe Grüße *S


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