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Tagebuch MI
2005-11-30 09:20
Die Mechanik des Selbstbetrugs
In einer Welt, in der nur die Phaenomene zaehlen und niemand mehr wissen will, was sich dahinter eigentlich verbirgt, tue ich mich schwer, dem nicht auch zu verfallen. Ist doch egal, klappt doch alles. Ich muss es doch nur so machen, wie die anderen. Irgendwie komme ich dann schon durch.

Wozu sich Fragen stellen, auf die es ja doch keine Antworten gibt? Und selbst, wenn: was nutzen sie denn? Wenn man sich die Welt anguckt, die Probleme, die sich immer weiter auftuermen, dann kann es doch nur eines geben: anpacken. Probleme erkennen, analysieren und loesen. Fragen nach dem Dahinter kann man danach stellen.

Das ist die Falle, in die ich praktisch IMMER gerate. Zur Zeit fegt mir das Leben ordentlich um die Ohren. Ich befinde mich am anderen Ende der Welt. Man sollte meinen, jetzt waere alles anders, jetzt kaemen vielleicht neue Aufschluesse, neue Gedankengaenge (ich spreche nicht aus beruflicher Sicht). Aber im Grunde - wenn ich ehrlich bin - ist es immer nur die alte Leier. Die alten Probleme, oder Problemchen, die ich vor mir herschiebe.

Es gibt solche Situationen, die ich hasse. Wie z. B., wenn ich mich mit jemandem in einem Gespraech befinde, und der dann mittendrin abbricht, um jemanden zu begruessen, der gerade an uns vorbeilaeuft, um mit dem dann ein anderes Gespraech zu fuehren. Ich kann gar nicht sagen, wie despektierlich ich so ein Verhalten finde.

Aber ich bekomme so ein klares Urteil, wieviel Wert gerade auf meine Gegenwart gelegt wird. Tagungen sind da ganz erbarmungslos. In offen Worten wird ueber etwaige Rangordnungen nicht gesprochen, es sind die Gesten.

Manchmal nutzen Menschen mich auch als Parkplatz. Es will ja keiner alleine herumstehen. Also kommt einer notfalls auf mich zu, redet mit mir ein paar Worte, nur um sich bei der naechstbesten Gelegenheit wieder zu verabschieden.

Bei anderen Gelegenheiten erfahre ich aber auch Wertschaetztung. Es geht auf und ab. Gestern abend war ich noch niedergeschlagen, ich vermisste schlicht Resonanz auf meine Arbeit, die ich in Posterform vorgestellt habe. Heute jonglierte ich ungezwungen zwischen Forschern und Forscherinnen aller Laender und unterhielt mich angeregt. Irgendwann wird mir der Rummel zuviel, ich brauche dann dringend Abstand.

Ich habe auch gelernt, die Dinge nicht so zu nehmen, wie sie vielleicht scheinen. Und selbst wenn sie so sind, wie sie scheinen (falls das ueberhaupt ein Unterschied ist): dann geht es doch nicht darum, anders zu reagieren. Sondern nur allein darum, gar nicht zu reagieren.

Das Leben ist so. Andauernd gibt es Anreize, irgendwelche Situationen entweder so oder so zu interpretieren und zu bewerten. Und dann Plaene zu entwickeln, um beim naechsten mal vielleicht anders zu reagieren, besser abzuschneiden. Ja, da sind diese Situationen, wo eine Stimme in mir sagt, dass ich jetzt aufpassen muss, was ich sage. Es koennte etwas falsches sein, etwas, das mich ins falsche Licht rueckt.

Dabei ist das alles Quatsch. Jeder weiss sofort, wen er vor sich hat, in welcher Verfassung er ist, ob er luegt oder die Wahrheit sagt. Das geht alles so schnell, es hat ueberhaupt keinen Sinn, da noch Taeschungsmanoever zu fahren. Die machen alles nur noch schlimmer.

Im Grunde ist alles ganz einfach: Situationen sind nun mal so, oder sie sind so. Ich kann die schoenen weder herbeifuerhen, noch die unangenehmen verhindern. Das fuehrt alles nur zur Verstrickung in die Phaenomene und weg von mir selbst. Ich selbst bin der, der die Situation annimmt, ohne sie verbiegen zu wollen.

Hinter dem Reflex, etwas richtig stellen zu wollen, in der Angst, etwas falsches sagen zu koennen, in der Scheu vor einer impliziten Bewertung, und ganz allgemein in jeder Regung, eine bestimmte Situation aendern und zu etwas vermeintlich Besseren lenken zu wollen, steckt immer nur ein falsches Selbstbild, das ich aufrecht erhalten moechte. Es ist einfach nur ein Selbstbetrug.

Jedoch die einfache Annahme der Situation, auch (oder vielleicht sogar gerade dann) wenn sie unangenehm sein sollte, stellt sich ueberraschend als Gewinn heraus.

Michael

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