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Tagebuch MI
2008-06-13 21:09
Der Nachbar
Nachbarn sind tatsächliche ganz besondere Menschen. Weil sie Nachbarn sind. Vielleicht würde man sie - unter anderen Umständen kennengelernt - nicht weiter beachten. Vielleicht würde man sie nicht einmal mögen. Manche Menschen mag man vielleicht nur, weil sie so sind, wie sie sind UND gleichzeitig Nachbarn sind.

Es gibt Menschen, die können als Arbeitskollegen ganz wunderbar sein: diskret, ordentlich, korrekt. Aber als Nachbarn könnten sie mit den gleichen Eigenschaften zur Qual werden: der korrekte Nachbar, der anderen Unkorrektheiten nicht durchgehen läßt. Erst wird noch gelächelt, vielleicht wenn man mal Kompost oder Papier in die Restmülltonne kippt. Aber im Wiederholungsfalle könnte das schon eine Unkorrektheit zuviel gewesen sein. Denn es geht hier nicht um Nachbarschaft an sich, Nachbarschaft als Selbstzweck, als etwas, das über den alltäglichen Dingen steht. Sondern es geht um Korrektheit.

Nicht korrekt sind dann auch laute Arbeiten während der Ruhezeiten, oder lautes Musizieren an Sonntagen. Man verstehe mich nicht falsch: ich bin schon ein Anhänger von Regelungen, von Zeiten, in denen man sich auf etwas Verlassen kann, auf Ruhe zum Beispiel. Andererseits bin ich auch jemand, der jederzeit "Fünfe gerade sein" lassen kann. Um so besser, wenn es der Nachbar auch so sieht, wenn er auch ein bißchen unkorrekt ist. Wenn beide diese Grauzone mögen, zwischen korrekt und nicht-korrekt. Weder das eine, noch das andere.

Gute Nachbarschaft um der guten Nachbarschaft Willen, gibt es das noch? Sich verzeihen, wenn mal was schief gelaufen ist, nur weil man Nachbar ist? Immer wieder aufeinander zugehen, auch wenn’s schwer fällt, auch wenn’s nicht wirklich nötig ist, auch wenns auch ohne geht? Nur weil’s der Nachbar ist?

Wir werden sehen. Kürzlich habe ich meinen Nachbar, Typ: unkorrekter Nachbar und mir daher sympatisch, regelrecht aus meiner Wohnung geekelt. Er hat sich aufgeführt, als sei er bei sich zu Hause, als hätte er auch bei mir das Sagen. Sein erster Satz nach dem Reinkommen war: "Mach mal Platz da". Damit wollte er sich einen Platz auf dem Sofa verschaffen (auf dem Sofa sind die besten Plätze, um sich gemeinsam ein Fußballspiel anzusehen, außerdem hat er selbst keins). Das ist legitim, nichts gegen einen derben Umgang.

Der zweite Satz war: "Gibt’s hier auch was zu trinken?"

Nun, ich stand bereits an der Schwelle, bei der besser kein weiterer Satz fällt, der mich über diese Schwelle hinausbefördert. Ich habe hier eine Familie, habe drei Kinder, die oft genug etwas von mir wollen. Denen ich durch mühsame Erziehungsarbeit immer wieder von neuem Selbstständigkeit beibringe (Abräumen, Aufräumen etc.). Was völlig in Ordnung ist, völlig normal. Aber ich bin damit dann auch ausgeschöpft. Ein weiteres "Kind" geht dann nicht.

Ein weiterer Punkt kommt hinzu: beim vorletzten Nachbarbesuch hat sich V. völlig betrunken, er wankte schließlich die Treppen runter und wieder rauf zu seiner Wohnung zurück (welche direkt gegenüber unserer ist: Gartenhaus und Vorderhaus, jeweils 4. OG). Es ist auch schon zu Auffälligkeiten gekommen. Wir hatten einmal alle ein kleines bißchen viel Wein getrunken, so daß die Zungen lockerer saßen. Da wurde einiges an Wäsche gewaschen. Das hat aber die Nachbarschaft bisher gut vertragen. Was von "Tragen" kommt, sie trägt.

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Trägt sie auch, was letzten Sonntag geschah? Ich jedenfalls ertrage etwas nicht: wenn jemand um sieben Uhr abends schon anfängt, Wein in sich reinzukippen. Ich bin da ein gebranntes Kind. Die Jahre 10-20 habe ich mit einem permanent unter Alkoholeinfluss stehenden Vater verbracht. Und Situationen, die mich auch nur entfernt an diese Zeit erinnern, lösen sofort einen "Trigger" aus: ich wehre mich sofort. Ich muß das sofort beenden. Ich kann es nicht ertragen, jemand Betrunkenes unter meinem Dach zu haben, den man dann auch noch schwer herausbekommt.

Mein Nachbar ist sicher kein Säufer. Aber ich vermute, die moderne Definition von Alkoholiker ("Regelmäßiger Alkoholverzehr") trifft auf ihn zu. Er trinkt jeden Tag so seinen Wein. Und in Gesellschaft auch gerne mehr. Und schenkt auch gerne ein und nach, auf daß der andere mit ihm wanke.

Dann war er auch noch so grimmig, ich hatte das Gefühl, daß er die schlechte Laune, die er an den Tag legte, bereits im Gepäck hatte, als er zu uns raufkam. Und statt daß wir (also meine und seine Familie und noch andere Nachbarn) uns ein bißchen nett unterhalten und Abendessen, wollte er das Fußballspiel Österreich gegen Kroatien, 2. Hälfte, gucken.

Da ich aber schon tags zuvor zwei Spiele hintereinander weg gesehen hatte, war ich immer noch fußballgesättigt. Und nichts war in diesem Moment für mich schrecklicher, daß gleich unter meinem Dach etwas stattfinden wird, mit dem ich nicht im geringsten einverstanden war: Fußball und Besaufen, auf gut deutsch.

Um das zu verhindern, war ich bereit, meinem Nachbar bewußt Fußball wie Wein vorzuenthalten. Stattdessen ließ ich die aktuelle Ausgabe des Berliner Heimatjournals laufen, die anderen interessierte es, und ich war froh, daß keiner das Spiel gucken wollte. Ich beobachtete, wie in meinem Nachbar Wut aufstieg. Und dachte mir: ja, so ist das eben. Du bist hier halt zu Gast und nicht zu Hause. Hier bestimme ich, nicht du.

Womit er allerdings nicht zurechtkam, und mit dem Satz: "Ich gehe, das ist mir hier zu aggressiv", verließ er die Runde. Ich rief ihm noch hinterher, daß er selbst das sei, der aggressiv sich verhielte. Auf die Beschwerde hin, daß ich andere Nachbarn viel höflicher behandeln würde, als ihn (mit Händedruck), erwiderte ich, daß wie du kommst gegangen, so wirst du auch empfangen.

Dann war er weg. Seine Frau und seine Tochter blieben noch zum Abendessen. Ich habe es als angenehm empfunden, daß mein Nachbar nicht mehr da war, es wäre mir viel zu anstrengend gewesen. Zumal es auch noch Sonntag war und ich am nächsten Tag wieder zur Arbeit mußte (er hingegen nicht, da er HartzIV-Frührentner ist, er gehört vom Alter her eher zu meiner Vater-Generation).

Ich habe später meiner Frau gesagt, daß ich den "Eklat" nur hätte verhindern können, wenn ich den Raum verlassen hätte. Aber man kann nicht immer davonlaufen. Schon gar nicht in der eigenen Wohnung. Wofür habe ich denn eine Wohnung? Eine eigene? Nur damit das gleiche Spiel weitergeht, wie früher, als ich mich vor meinem alkoholisierten Vater zurückziehen musste? Nein, das geht nicht, dann wäre ja alles umsonst gewesen.

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Heute habe ich ihn mit seiner Frau und Tochter getroffen: wir grüßen uns schon wieder. Vorsichtig. Man wird sehen. Es ist eben eine Nachbarschaft. Und eine echte Nachbarschaft, das ist weder Freundschaft noch Feindschaft, weder Liebe noch Hass, weder aufregend noch langweilig, sondern es ist eine Nachbarschaft. Etwas durchaus sehr Besonderes.

MI

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