Willkommen auf Tagtt!
Friday, 29. March 2024
Tagebücher » MI » News, Bilder, Videos - Online
Tagebuch MI
2006-04-21 10:12
Das Vertrauen wiederentdecken
Um überhaupt einmal nur einen originären, ureigenen Gedanken erkennen und von Fremdgedanken unterscheiden zu können, ist wahrscheinlich eine Kulturabstinenz von wenigstens zehn Jahren notwendig. Mit Kultur meine ich das, was vermeintlich als Kultur verstanden wird, also die westliche Kultur des Kämpfens, des Schneller-Weiter-Höher, die einem ja von Jugend an eingeimpft wird.

Los wird man sie wohl nie werden. Es kann nur darum gehen, wenigstens das Unterscheiden zu lernen. Wenigstens zu erkennen, wenn denn wirklich einmal etwas Echtes an einem selbst zum Vorschein kommt. Dieses Echte ist von einem bestimmten Gefühl begleitet. Man fühlt sich wie ein Kind, unschuldig, frei, frei vor allem von Angst, Argwohn, Sorge, frei von Hass, Gier, Eitelkeit und Dünkel.

Frei von der Vergangenheit, frei von der Zukunft, frei von allem. Man ist einfach 100% mit diesem Gedanken beschäftigt, in gewisser Weise elektrisiert. Nichts ist da, was sonst wie unsere Kultur funktioniert. Da ist keine Berechnung dahinter, kein "Wenn dies geschieht, dann müßte auch das geschehen, und das wäre dann zu meinem Vorteil, daher mache ich das jetzt".

Schlimm - und das ist wirklich schlimm - ist, daß aber in der westlichen Kultur praktisch alles nach dieser Maxime abläuft. Heute sehen wir bestürzt in die Vergangenheit, wir sind bereit, alles Schlimme, das geschehen ist, zu verurteilen. Die faktische Ausrottung der amerikanischen und australischen Ureinwohner, die Versklavung der Afrikaner, die Völkermorde zu allen Zeiten.

Was dabei nicht bedacht wird ist die Tatsache, daß all diese Dinge aus dem gleichen Geist heraus geschehen sind, wie er heute auch wieder sein Unwesen treibt. Immer noch fühlt sich die westliche, europäisch-amerikanische Kultur anderen Kulturen überlegen und muß das immer wieder von Neuem demonstrieren. Und begeht ganz wie zu früheren längst auch offiziell verurteilten Zeiten dabei genau die gleichen Fehler.

Immer nur angetrieben von den Gedanken an Wachstum (unter den Nazis war das halt Landgewinnung), an Eroberung (Globalisierung genannt), an Optimierung und Maximierung. Dabei hinterläßt unsere Kultur eine Spur der Verwüstung, die freilich spätere Generationen ebenso wieder verurteilen werden.

-

Was hier in unserer Gesellschaft leider vollkommen fehlt, das ist das Vertrauen darin, daß wir Kinder dieser Erde sind und daß die Geschicke auch ohne unsere Optimierungsversuche die richtige Bahn finden, daß sie es sogar ohne unser Eingreifen viel besser hinbekommen würden.

Wenn ich an einem Apfelbaum vorbeikomme, dann habe ich ja die Möglichkeit, nur soviel von seinen Früchten zu essen, wie ich brauche, um jetzt satt zu werden. Vielleicht nehme ich noch etwas Proviant mit, lasse den Baum aber ansonsten wie er ist, jemand nach mir mag auch davon essen können. Ich vertraue darauf, zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ich wieder hungrig bin, erneut auf eine Nahrungsquelle zu stoßen.

Wenn ich darauf nicht vertraue, dann muß ich diesen Apfelbaum plündern. Ich nehme alle Äpfel von ihm ab, auch wenn jemand anderes dann nichts mehr von diesem Baum hat (die Zugspätgekommenen bestraft ja bekanntlich das Leben). Vielleicht baue ich noch einen Zaun um diesen Baum herum und versuche, mit verschiedenen Maßnahmen sein Wachstum anzukurbeln, damit er schneller wächst, größer wird und so oft wie möglich Früchte trägt.

Bis er schließlich von der andauernden Ankurbelung zu Grunde geht, weil sein natürlicher Rhythmus gestört ist, weil von ihm andauernd mehr gefordert und gepflückt wird, als er zu geben in der Lage ist. Das Ende vom Lied ist ein geplünderter, abgestorbener Baum, und der Plünderer steht nun doch wieder vor dem Dilemma, auf die nächste Nahrungsquelle hoffen zu müssen.

Wenn er aber sowieso vor diesem Dilemma steht: warum sich dann nicht gleich diesem Vertrauen hingeben und die Bäume leben, wachsen, blühen und Früchtetragen lassen, wie sie es sowieso tun würden? Warum nicht einfach nur soviel nehmen, wie man tatsächlich braucht, und den Rest einfach lassen?

Aber etwas zu lassen, das ist wohl das allerschwierigste für einen westlich geprägten Menschen. Und ich weiß, dieses Vertrauen zu haben oder wiederzugewinnen, ist schwierig und läuft allem zuwider, womit man hier groß wird. Aber ich glaube, über kurz oder lang gibt es dazu keine Alternative. Denn Mißtrauen hinterläßt nur kaputte Bäume und ausgebrannte Erde. Und vom Apfelbaumplündern ist wohl noch keiner glücklich geworden.

-

Jetzt bin ich etwas abgeschweift, dabei geht es mir nicht um gesellschaftliche Debatten. Mir geht es darum, wie ich dieses Vertrauen für mich wiederentdecken und kultivieren kann. Ich sehe meine Kinder: sie sind alle kleine Götter. Sie machen es mir vor. Natürlich kann man nicht wieder zu einem Kind werden. Die Welt muß man schon kennen, eine Vogel-Strauss-Politik ist keine Lösung. Trotzdem hilft es, die Dinge einfach mal "die Dinge" sein zu lassen und sich ganz dem Moment hinzugeben. Vermutlich geht es nur so.

Denn nur in diesem Moment der Hingabe und des "Vergessens" (damit ist gemeint: vergessen der Konditionierung) kann das verlorengegangene Vertrauen wiedergefunden werden. Nur in diesem Moment kann der originäre Gedanke empfangen werden, in diesem ganz kindlichen, unschuldigen Augenblick. Schneller-Weiter-Höher mag es dann auch gehen, nur war das niemals ein Ziel, sondern ist dann lediglich eine Begleiterscheinung.

Michael

Kommentare

10:19 24.04.2006
Danke! So was nettes aber auch... MI
Soll der Kommentar wirklich gelöscht werden?
Löschen | Abbrechen


unbekannt
15:03 23.04.2006
Ein grandios geschriebener Eintrag. Ich traue mich gar nicht mehr als dieses Lob hinzuzufügen, aber ich bleibe weiterhin treue Leserin deiner "Gedankenverschriftlichungen" :).
Liebe Grüße


Kommentar löschen
Soll der Kommentar wirklich gelöscht werden?
Löschen | Abbrechen

Kommentieren


Nur für registrierte User.

MI Offline

Mitglied seit: 02.04.2005
DE mehr...
Wirklich beenden?
Ja | Nein

2006-04-21 10:12