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Tagebuch MI
2006-05-05 14:21
Das Trumangefühl
Heute Morgen war ich extrem müde, alles fühlte sich zäh und lederig an. Ich wollte eigentlich zu meinem Institut fahren, mir fiel dann ein, daß mein Fahrrad noch einen platten Reifen hatte.

Dieses Problem verschleppe ich normalerweise, pumpe das Rad auf, daß es gerade für die Fahrt noch hält, pumpe es für den Rückweg dann wieder auf.

Nun war aber das Loch zu groß geworden, ich mußte also flicken. Das kam mir im Grunde entgegen, denn zur Arbeitsstelle zu fahren, danach stand mir der Sinn gar nicht. Nicht, daß ich nicht arbeiten wollte, ich mag meine Arbeit sogar. Aber ich habe manchmal solche Phasen, da fühle ich mich wie ein Acker, der andauernd Früchte hervorbringen soll, der dann halt irgendwann seinen Tribut einfordert und nicht mehr will.

Ich habe also meinen Reifen geflickt. Dabei bin ich einigen Menschen in meinem Wohnhaus begegnet, die auf ihrem Weg zur Arbeit, Uni, Kindergarten an mir vorbeikamen. Es sind alles sehr nette Leute, ich habe Glück, wohne in einer angenehmen Nachbarschaft, und es gibt viele Kinder und Familien im Haus.

Die Lichtanlage wollte ich dann auch noch reparieren. - Ich mag an meiner Arbeit auch, daß ich so etwas machen kann. Wenn ich keinen Termin habe oder etwas ganz dringendes zu erledigen, dann kann ich auch später zum Institut kommen. Es liegt ganz an mir. Ich nutze das nicht oft, weil ich ein Rhythmusmensch bin. Aber ab und an ist das schon ganz schön.

-

Das Kabel für das Vorderlicht habe ich neu verlegt, habe das alles in Ruhe gemacht, mir gefiel das gerade. Es war wie ein kleiner Ausbruch aus der Routine. Eine Nachbarin kam vorbei und machte die Geste, daß das wohl nun lästig wäre, so eine Reparatur. Das ist im Grunde normal, daß man so denkt. Ich denke ja eigentlich auch nicht anders.

Dabei kann das was sehr Nettes sein und lädt zu interessanten Beobachtungen ein. Allein, daß der eigene Rhythmus durcheinandergerät ist ja schon interessant. Eigentlich wäre ich jetzt auf dem Weg zur Arbeit oder längst am PC. Stattdessen repariere ich hier gerade mein Fahrrad. Im morgendlichen Sonnenschein.

Irgendwann ist dann so ein Punkt überschritten, an dem mir klar wird, daß heute ein anderer Tag ist. Ich bin anders, die Menschen sind anders, alles ist anders.

Und dann kommt dieses komische Trumangefühl: alles ist auf einmal unecht, vollkommen unecht. Ich suche nach den Beweggründen, warum gerade ein jeder macht, was er macht. Frage mich nach dem Wozu. Und dann kommt mir alles so vollkommen automatisiert vor. Jeder scheint auf Schienen zu fahren, unmöglich, aus ihnen auszuscheren. Genauso wie das bei mir eben ist, wenn ich morgens zur Arbeit gehe.

Dann kommt es mir alles wahnsinnig vor. Weil von den eigentlich unendlich vielen Möglichkeiten, die so ein Tag jedem Einzelnen bietet, anscheinend immer nur diese eine, diese eine einzige Möglichkeit, wahrgenommen wird. Tag für Tag.

Warum nur diese? Warum nicht irgendeine andere?

-

Man steht fassungslos vor diesem Phänomen, eigentlich ratlos, und weiß doch, daß es bei einem selbst genauso ist. Auch wenn man sich heute mal eine Ausnahme gönnt.

"Hallo", "Guten Tag", "Schöner Tag heute, was?" "Endlich schönes Wetter!" usw.

Dabei ist das ja wirklich schön. Ich kann es nur nicht anfassen. Ich weiß nicht, was es ist. Wer steckt wirklich dahinter, hinter all den "Guten Tag"s und "Endlich schönes Wetter?"s.

Irgendwann hört man auf zu fragen, klinkt sich wieder in den Strom ein, wird auch eines dieser Schienenwesen. Trotzdem meine ich, wäre es bei mir anders. Ich weiß zwar, daß ich auf diesen Schienen fahre. Aber ich bin auch immer jemand, der mal anhalten und mal absteigen kann, wenn es abseits der Spur Interessantes zu entdecken gibt. -

Die Lichtanlage habe ich nicht hinbekommen, das Vorderlicht wollte einfach nicht leuchten. Natürlich brauche ich das in dieser Jahreszeit nicht, da es ja lange genug hell ist. Aber die Polizei kontrolliert die Lichtanlage trotzdem. Und da ich ab und an in so eine Kontrolle hineingerate, möchte ich, daß meine Lichtanlage wieder funktioniert.

Das Lämpchen habe ich noch ausgetauscht, hat auch nichts genutzt. Die Stromversorgung war in Ordnung, Stromrückführung müßte auch gewährleistet sein, also: Ursache für Nichtfunktionieren unbekannt.

-

Nun bin ich wieder in diesem Fluß, der nur so ein komischer "Trumanfluß" ist, der nur solange echt ist, wie ich glaube, daß er echt ist.

Mir kam noch der Gedanke, dies Erdendasein könnte auch so eine Art Detektivspiel sein. Am Ende des Spiels werde ich danach gefragt, ob ich die Wahrheit gefunden habe, oder wieviel Wahrheit ich gefunden habe. Wieviele Lügen ich geglaubt habe, auf wieviele Lügen ich hereingefallen bin. Und was ich nun, nach meiner Erdenzeit, glaubte, was wirklich wahr wäre von all dem, was mir während meines Aufenthaltes auf der Erde als wahr genannt wurde.

Dann kommt die große Aufklärung, das große Lachen über die Menschen mit ihrer "Politik", ihren "Religionen", ihren "Staaten" und ihren "Überzeugungen".

Was ist das alles letztlich? Nichts anderes als künstlich herbeigeführte Unterscheidungen, nur damit man was zum Unterscheiden hat.

Michael

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