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Tagebuch Malaika
2006-10-30 20:36
Die alte Achterbahnfahrt
Gestern:
Ein schöner Tag. Ich fahre nach Hause zu meiner Mom, ihr geht es etwas besser. Krebs ist eine hinterhältige Sache. Selbst, wenn er offiziell entnommen wurde, ist da immer dieser Schatten im Hintergrund, der dir zuschreit: "Pass auf, was du isst. Pass auf, dass du genug schläfst. ... sonst bin ich nächstes Jahr wieder da." Sie hat mir gestern erzählt, dass sie seit einem Jahr nicht mehr richtig schläft. Ich bin davon überzeugt, dass es mehr mit IHM zu tun hat als mit ihr selbst. Er lässt sie nicht so sein, wie sie ist. Es gibt in seinen Augen immer etwas, das sie falsch macht. Er gibt ihr das Gefühl, sie sei nichts wert ohne ihn, dabei kann er so froh sein, dass er sie hat - sie ist neben all ihren Macken, die ich gar nicht beschönigen will, einer der lebenslustigsten Menschen überhaupt. Aber das weiß er nicht zu würdigen.
Ich werde mal schauen, ob ich ihr etwas Gutes tun kann. In solchen Momenten merke ich, dass ich im Innersten immer noch Angst habe, dass es sie bald nicht mehr geben könnte. Als sie im Krankenhaus lag, habe ich sie kaum wieder erkannt und habe ständig von Tod und Beerdigungen geträumt. Das ist jetzt mehrere Monate her und trotzdem könnte ich manchmal heulen - irgendwie vor Glück, dass der Tumor entfernt wurde und aus Angst, dass der beschissene Krebs wiederkommt.
Mir ist erst durch diese Krankheit klar geworden, dass es noch so vieles gibt, das ich ihr sagen will. Wir haben uns so eine lange Zeit nicht so richtig verstanden und darum tut es mir leid. Es hat so vieles verändert, dieses eine Wort Krebs. Ich möchte nach vorne sehen, ich merke, dass ich mich nicht mehr mit alter Wut, alten Enttäuschungen, usw. aufhalten will - es gibt so vieles, das ich noch sehen und erleben möchte. Und ich möchte, dass sie glücklich ist, dass dieser Mann, ihr Mann, ihr das Leben nicht so schwer macht. Wie kann er jetzt, nach so kurzer Zeit, sie mit so viel Stress zumüllen? Sie muss sich doch noch erholen, aber er ist der pure Egoist. Ich sehe es ihm an, wie sehr es ihn ankotzt, dass er nicht der Mittelpunkt ist. Ich weiß, dass er auch seine Päckchen zu tragen hat. Aber dadurch, dass er alles nur verdrängt, klärt sich nichts, keine einzige kleine Sache. Es wird alles nur weggeschoben, weggedrängt, weggeredet.
Ich habe auch meine feste Rolle. Ich bringe sie zum lachen. Das kann ich schwer erklären. Ich mache es automatisch. Egal, was vorher los war, ich möchte sie zum Lachen bringen. Würde ich das nicht tun, wäre nur noch mein Bruder da, der mit seiner Dauerdepression die Stimmung kontinuierlich nach unten reißt. Auch seltsam - er behauptet ja, dass niemand Rücksicht auf ihn nehmen würde. Ich verstehe das nicht, weil ich mir nicht vorstellen kann, was das heißen soll, Rücksicht auf einen Depressiven nehmen. Soll man dann in seiner Gegenwart wenigstens genau so deprimiert sein und vom Leben als ein perspektivloses schwarzes Loch reden? Ist das dann Rücksicht? So zu tun, als gebe es kein Glück, keine Freude???

Abends fahre ich nach Hause. Zuhause, das bedeutet eigentlich nur Stress. Zuhause, das sollte Freude bedeuten. Aber es ist nicht so.

Ich weiß gerade nicht mehr richtig weiter. Ich fühle mich zum ersten Mal hilflos und an die Wand gedrückt, egal, wie ich mich drehe, starrt mich ein Mensch an und will etwas von mir, während ich alle Kräfte mobilisieren muss, um mein eigenes Leben hinzukriegen. Meistens klappt das auch, ich wundere mich ja selbst, dass es geht - es ist alles eine Einstellungssache. Nur heute, da klappt es einfach nicht, da könnte ich schreien, weil mir alles zu viel wird und weil alles Druck auslöst. Wie eine Stromleitung, die durch meinen Kopf geht und einen permanenten Un-Ton von sich gibt. Im Gegensatz zu N. bin ich aber nicht bereit aufzugeben. Ich kann das nicht. Auskotzen, ja, aber sich hängen lassen - NEIN.

Das und so vieles andere ist auch der Grund, warum es mit S. einfach nicht mehr geht. Er kommt mir mit seinen selbst gebastelten Problemchen vor wie ein privilegierter Student, der heute mal eine Diplomdepression fährt. Morgen ist es dann eine unfreundliche Kassiererin im Supermarkt. Übermorgen die ganze böse Welt, die eine Verschwörung plant. Das ist nicht meine Realität, ich kann es verstehen, nachvollziehen, rein geistig, aber vom Herzen her nicht. Für ihn bin ich eine überpositive Berufsoptimistin. Aber wer sollte sonst an einen selbst glauben wenn nicht die Person selbst? S. hängt da an diesem komischen Engelsbild - eines Tages kommt ein Engel in Menschengestalt und gibt ihm alles, während er nichts tun muss. Der Engel in Frauengestalt hört sich klaglos seine wochenlangen Jammereien an und tröstet ihn, backt ihm einen schönen Schokoladenkuchen gegen überempfindliche Momente und ist über alle Maßen froh, dass er einfach nur bei ihm sein kann. Mehr will er nicht, der kleine Engel. Klug ist er, der Engel, aber natürlich nicht zu klug, auf keinen Fall klüger als S. Oh nein, dann lieber attraktiver als S. das schadet dem Ego nicht so sehr.

Klar, so sieht die Realität aus, sicher - WAS FÜR EIN SCHWACHSINN!!!

Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Ich habe keine Ahnung, aber ich finde das gar nicht so schlimm. Ich muss auch nicht immer wissen, wie es weitergehen soll - letztendlich geht es doch einfach irgendwie weiter und irgendwann, vielleicht morgen, befinde ich mich auf einer höheren Stimmungslage und sehe alles gelassener.

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leben 

Kommentare

00:15 01.11.2006
schön das du deine Mutter zum lachen bringst, sie aufbaust ihr Hoffnung gibst. Das ist sehr wichtig.
Was S. angeht ich glaube solche Träume von diesem selbstlosen Engel in Frauengestalt haben viele Männer. Wenigstens habe ich in meinem Leben auch schon solche Exemplare erlebt, mich deshalb auch immer für Beziehungsuntauglich gehalten
wünsch dir geruhsamen Feiertag
lG marami
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16:51 31.10.2006
Nach dem Lesen deines Textes bewundere ich deine Sichtweise: Man muss nicht immer wissen, wie es weitergehen soll. Denn letztendlich passieren die Dinge einfach. Man kann sie nur bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Das zu erkennen, ist nicht so einfach. Denn es bedeutet ja den Verlust vermeintlicher Kontrolle. Letztendlich ist es aber realistisch. Und führt dazu, dass man, so wie du heute, auch an einem schlechten Tag sagen kann: Irgendwie werde ich das schon schaffen.
Eine gute Einstellung von dir, wie ich finde!
Ich wünsche dir auch weiterhin die Stärke, die Dinge so angehen zu können.

Liebe Grüße, Vada
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2006-10-30 20:36