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Tagebuch lorus
2011-12-20 22:48
Eine Basler Weihnachtsgeschichte
Der Engel stürmte durch den Schneematsch der Fussgängerzone der Freien Strasse. Seine gefütterten Stiefel waren vollgezogen mit kaltem, dreckigem Schneewasser. Er musste es unbedingt noch bis zum Rheinbord an der Kleinbasler Seite schaffen, bevor Nicole bei der Mittleren Brücke reinstürzen sollte. So jedenfalls lautete der Auftrag, den Gabriel ihm am Morgen gegeben hatte. Verzögerungen hatte es gegeben wegen des Schnees. Dass er jetzt zu Fuss unterwegs war, hatte mit seinem Auftritt zu tun. In dieser Weihnachtszeit sind Auftritte mit Lichteffekten und Himmelstönen immer heikel. Die Leute meinen in der Regel, es gebe etwas umsonst und versperren dann den Weg, so dass es schwierig wird die Aufträge auszuführen. "Ach", seufzte der Engel: So schön, wie damals vor 2000 Jahren, als er als Erstlehrjahrstift*) dabeisein und mit der A-Band Gabriel begleiten durfte zu den Hirten auf dem Feld; als er als noch junger Trompeter die 7. Stimme zu "A Night in Tunisia" blasen konnte - so schön war es nie mehr gewesen.
Egal. Seither hatte er eine unendliche Anzahl von Menschen gerettet. Sie aus Lawinen befreit und aus Gefängnissen geholt. Er hatte sie gestützt, wenn sie strauchelten, aufgefangen, wenn sie sich aus brennenden Häusern stürzten. Er hatte sie getröstet, wenn sie am Bett eines Sterbenden von der Einsamkeit überwältigt wurden und später auch die Verstorbenen hinübergeleitet in die Neue Welt. Dort hatte er eine Zeit lang Einführungen gehalten für die, die neu ankamen und versucht, sie auf die Begegnung mit dem Sohn Gottes vorzubereiten. In einigen Kriegen übernahm er es dann, die letzten Botschaften der Gefallenen zu den noch Lebenden zu bringen.
Heute aber war er in Basel, um Nicole zu retten. Unauffällig gekleidet als älterer Herr sollte er sich am Fuss der Treppe postieren, die zur Brücke hinaufführt. Genau um 11:52 würde Nicole, vom Alkohol benebelt und vollkommen orientierungslos, am Rheinufer hinfallen und den Kopf auf der Pflastersteinkante aufschlagen. Sie würde langsam in den Rhein rutschen, genau im Schatten der Brücke, so dass niemand sie würde fallen sehen.
Noch war er nicht da. Er hetzte über die Brücke. Leider beginnen Engel, die gestresst sind, zu leuchten. Es ist so, wie wenn Menschen rot werden. Die Leute, die der Engel unsanft zur Seite schubste, sagten zwar: "Hee, bass doch uff, Schoofseggel!"**) - als sie dann aber genauer hinsahen, klappte ihnen die Kinnlade herunter: Warum leuchtet der Kerl wie ein Weihnachtsbaum? Hat er eine Batterie Lampen unter dem schmutzigen Mantel, oder was?
Der Engel fiel jetzt in Laufschritt. Er wechselte auf die Fahrbahn, rannte Richtung Café Merian, wechselte wieder aufs Trottoir, um einen Blick über die Brüstung zu werfen. In diesem Augenblick sah er, wie Nicole fiel, mit dem Kopf aufschlug, zum Bord rollte und langsam die schräge Böschung hinunterrutschte ins eisige Wasser. Der Engel überlegte nicht lange. Er eilte auf die andere Brückenseite, hechtete über die Brüstung und sprang in den Fluss. Er konnte Nicole gerade in Empfang nehmen, die langsam angetrieben kam.
Oben schrien die Leute, jemand alarmierte die Polizei. Noch während der Engel Nicole an Land trug, näherten sich schon Sirenen. Einer rief: Lasst mich durch, ich bin Arzt!" Und während die einen gafften und die anderen schimpften: "Immer dasselbe mit diesen versoffenen Pennern" machte der Engel sich langsam davon. Er musste jemanden finden, der jetzt zu Nicole sah. Erst würde sie eine Nacht im Spital bleiben können. Sie würde ein warmes Bett haben, nüchtern werden, etwas zu essen bekommen. Die nette Spitalpfarrerin würde sie besuchen und milde lächeln, wenn sie etwas vom Engel erzählte. Dann aber würde es heissen: "Sie sind wieder ok. Sie können nicht länger im Spital bleiben."
Der Engel wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte. Er meldete sich bei Gabriel, um zu fragen, ob er Gerhard im Traum erscheinen dürfte. Träume sind bekanntlich bewilligungspflichtig. Engel dürften nur auf Anweisung in Träumen auftreten. Gabriel war natürlich sofort einverstanden. Der Engel wusste, dass Gerhard an der Klybeckstrasse ein Haus führt für Menschen, die mit dem Leben nicht klar kommen. Drogenabhängige, Alkoholiker, Trottoieramseln. Bei Gerhard finden sie ein Dach, sie finden jemanden, der sie einfach so nimmt, wie sie sind. Sie finden, wenn sie das wollen, neue Ideen für ihr Leben, das allzuoft gescheitert ist, sinnlos, einfach kaputt.
In der darauffolgenden Nacht, während die Menschen in Basel zu Hause vor den Weihnachtsbäumen sassen und Geschenke auspackten, trat deshalb der Engel in Gerhards Traum auf. Er stellte ihm Nicole vor, erzählte ihm von ihrer Geschichte, Nicole war hinausgeworfen worden von ihrem Mann, der sie ständig verprügelt hatte. An der Arbeitsstelle hatte man sie fertiggemacht; ihr gesagt, sie sei zu langsam und zu dumm. So hatte sie zu trinken begonnen. Zuerst nur ein paar Gin Tonic am Abend, bald einen Weisswein in der Znünipause***). Schliesslich Kochwein zum Zmorge ****). Die Kündigung lag am Tag ihres Unfalls bereits eine Woche zurück. Das alles erklärte der Engel im Traum geduldig dem Gerhard. Als er ihm dann noch sagte, dass Nicole im Zimmer 1436 des Kantonsspitals liege, war Gerhard klar: Das ist kein Traum, das ist ein Auftrag.
Als Nicole am Weihnachtstag aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte, sass ein netter Herr an ihrem Bett. Er stellte sich vor als Gerhard Meierhofer und bot ihr an, an der Klybeckstrasse einzuziehen, wenn sie entlassen würde. Alles weitere würde man dann sehen.
Während Gerhard am Bett von Nicole sass, um ihr diese frohe Botschaft zu überbringen, wartete der Engel bereits unterhalb des Piz Quattervals im Engadin, weil dort bald eine Gämse von einer Lawine überrascht werden würde. Sie rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu bringen, lautete sein nächster Auftrag. Noch einmal wollte der Engel nicht zu spät kommen.

Autor unbekannt

*) Stift = Azubi
**) Schoofseggel ist ein Schimpfwort. Dieser Schoofseggel wird aufgefordert, aufzupassen.
***) Znünipause = Pause am Vormittag
****) Zmorge = Frühstück

Kommentare

18:04 25.12.2011
Vielen Dank für den Engel.
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11:13 25.12.2011
schöne Geschichte. Ich wünsche auch Dir einen Engel!
scheeni Wienacht.
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02:18 22.12.2011
besser noch wunder oder glückliche zufälle sind täglich möglich und geschehen auch
Good luck!
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10:34 21.12.2011
@Lucky: Wer weiss? An Weihnachten sollen doch Wunder möglich sein.
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02:36 21.12.2011
wenn's doch nur so wäre
Good luck!
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