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Tagebuch Eulchen
2016-04-06 18:57
Ein Brief

Wir kennen uns schon sehr lange. Ich weiß, wie du dich anfühlst, genauso wie du weißt, wie ich mich anfühle. Man könnte es fast so etwas wie eine Beziehung nennen. Eine ziemlich innige, ziemlich intime. Ich kenne alle deine Gedanken. Deine düstersten, dunkelsten, verruchtesten Geheimnisse. 

Ich bin ein treuer Begleiter. Für eine gewisse Zeit. Aber das weißt du. Genauso wie dir klar ist, dass ich leicht zu  verlieren bin, so gibst du große Acht auf mich. Oder gerade deshalb. Du schenkst mir ein Zuhause. Ich kenne es schon eine Zeit lang. Vorher war es ein anderes. Ein ähnliches Gehäuse mit ähnlichen Artgenossen. Eine Klappe, die sich mit einem "sssrrr" öffnet und ich mich gemütlich dazulegen und entspannen kann, bis du mich wieder holst. Das weiß ich zu schätzen.

So wie du zu schätzen weißt, dass ich ein ruhiger Geselle bin. Ich gebe kein Laut von mir. Nie. Bin mucksmäuschen still. Du brauchst nicht nach mir Ausschau zu halten, wenn du in mein Zuhause greifst. Du lässt die Finger über meine Artgenossen streifen. Die orangen Hungerhaken mit ihren bunten Köpfen lässt du durch deine Finger gleiten. Sie interessieren dich nicht, weil du mich willst. Viele Menschen wollen mich. Du ertastest meine Rundungen blind, weißt, wie du mich zu berühren hast. Du weißt, wie ich in deine Hand gehöre. Das macht uns zu besondere Verbündete. 

Ich bin eine Zwischenstation deiner Gedanken. 
Eine ziemlich Geniale, findest du nicht?  
Ich weiß, ich bin dafür da, um dir zu dienen. Im Endeffekt nur eine schnelle Nummer, für Zwischendurch, wenn dir der Kopf zu voll wird und du diese lästigen Wortfetzen in deinem Kopf auf Blatt bringen möchtest. Sobald du leer im Kopf bist, bin ich nämlich nicht mehr wichtig. Du bestimmst über mich. Wenn ich Zuhause sein soll und wann ich zur dir gehöre. 

Aber das ist schon okay so. Ich weiß nämlich, dass ich dir viel bedeute und du mich immer wieder brauchst. Du könntest gar nicht ohne mich. Wenigstens eine kleine Genugtuung. Woher ich das weiß? Nun, ich sehe jedes Mal die Panik in deinem Gesicht, wenn du in meinem Zuhause nach mir suchst, aber mich nicht findest. Dann liege ich meistens dort, wo du mich vergessen hast und lache dich aus. Stumm, natürlich. 
Und dann suchst du die Umgebung nach mir ab, erblickst mich und eine  große Erleichterung überkommt dich. 

Aber ich muss dich vorwarnen: Ich bleibe nicht für immer. 
Vielleicht liegt das an deiner Schusseligkeit, aber ich denke viel eher, dass ich entführt werde. Für mich wird das okay sein, weil ich zu meinem Entführer dieselbe, intime Bindung aufbauen werde, wie zu dir und den vielen anderen vor dir auch. Ich bin ein Wanderer. Von Hand zu Hand und von Gedanken zu Gedanken. Eigentlich sollte man denken, ich bin weise und gebildet, aber doch bin ich dumm. Ich habe kein Gehirn. Nicht mal einen Kopf. Nicht in deinem Sinne. 
Aber du wirst wütend und traurig, ja, vielleicht sogar frustriert sein, wenn du merkst, dass ich verschwunden bin.

Aber auch das ist okay. 
Denn auch du wirst dann demnächst, dann und wann, irgendwann, einfach den Nächsten entführen. Nach derorangen Familie, diesen Spargeltarzanen, wirst du nicht greifen. Sie sind keine gute Alternative. Familie Finliner - wie sie schon heißen, hör's dir an! - wären ein beleidigender Ersatz.

Und mein Bruder wird dieselbe Beziehung zu dir aufbauen, wie ich zuvor. Es ist der Kreislauf einer lächerlichen Banalität. 

In inniger Liebe,
dein Kugelschreiber.

 

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2016-04-06 18:57