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Thursday, 25. April 2024
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Tagebuch Erich_Binner
1918-01-01 hh:mm
Ein neues Jahr hat angefangen ...

Ein neues Jahr hat angefangen: 1918. Nichts Wirkliches; ein abstrakter Begriff, eine Spanne Zeit, die sich die Menschheit gesetzt. Hoffentlich bringt es den Frieden uns und mir. Wenn ich den Zeitabschnitt, der jetzt zu Ende gegangen ist, an meinem geistigen Auge noch einmal vorüberziehen lasse, so kann ich sagen: er war arm an äußerlichen Geschehnissen, aber reich an innerem Erleben. Zu Anfang des Jahres bestand ich meine Prüfung, im Sommer folgte eine kleine

Schwärmerei, sonst nüchterne Berufstätigkeit. Aber reich an innerem Erleben war das Jahr. Mein Innerstes ist wieder stärker geworden. Ich habe an Lebensanschauung gewonnen; mein Glaube, meine Philosophie hat festere Grundlagen bekommen, mein Denken, Streben ist ein anderes geworden. Ausschweifender, übermäßiger Sinnengenuss, wie ihn viele meiner Bekannten huldigen, widert mich an; die höchsten Weihestunden bereitet mir aesthetisches Genießen.

Ich habe bis jetzt noch kein Tagebuch geführt, doch in letzter Zeit ward es mir zum quälenden Bedürfnis, die Gedanken, die Gefühle, die in der Brust wohnen, auszusprechen oder wenigstens auszuschreiben. Aber nicht nur die innere Unruhe will ich aufs Papier wälzen. Diese Aufzeichnungen sollen auch der Spiegel meines Gedankenfluges, meines aesthetischen Erlebens, meines innersten Fühlens sein; denn ich sehe anders wie andere Menschen; ich bin zuweilen in Gefilden, die für viele nicht existieren; und die kann ich nur dem verschwiegenen Bogen, der vor mir liegt, anvertrauen. Vor ihm brauche ich mich nicht zu schämen: andere Menschen würden mich ja auch gar nicht verstehen; ja, sie würden lächeln. Manchmal, aber nur manchmal folgt mir ja mein Freund in jenes wunderbare Land. Doch dass sich zwei Menschen ganz rückhaltlos verstehen, daß ist wohl unmöglich; es herrscht immer eine kleine Differenz, die die wunderbarsten Stimmungen zerstört. Und von diesem Alleinsein sollen diese Blätter erzählen. Dann führt es ja aber auch zu großer Klarheit des Geistes, wenn man das Empfundene, Erlebte, Gedachte in Worte kleidet; wenn man den Schemen, die in einem ringen, Gestalt gibt, so wie der Bildhauer seine Ideale in Marmor aushaut.

 

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Erich_Binner (Erich Binner) Offline

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1918-01-01 hh:mm