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Tuesday, 23. April 2024
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Tagebuch Erich_Binner
 1918-01-03 hh:mm
Das neue Jahr hat seinen Flug begonnen ...

Das neue Jahr hat also seinen Flug begonnen. Mit einem Feiertag. Mit einem Tag, an dem nicht die Pflicht ruft, an dem der Geist von den Sorgen des Alltags ruhen kann. Wenn ich an einem solchen Tage morgens erwache, dann weiß ich: "Der Tag gehört mir." Das ist ein wonniges Gefühl ohne gleichen. Als ich mit meiner Toilette fertig war, zündete ich eine Zigarette an, nahm den 'Golem' und setzte mich unter den Weihnachtsbaum. Ich habe ihn von meiner Tante zu Weihnachten bekommen, den Golem. Ein seltsames Buch, dieser poetische, mystische Roman. Auf dem tiefschwarzen Einband steht in geschmackvollen roten Lettern der Titel, der Schnitt ist ebenfalls rot. Und ich vertiefe mich in das Kunstwerk, dass ein echter Dichter schrieb. Die spannende Handlung spielt oft ins Übersinnliche; die Gestalten sind so originell, die Sprache des Dichters so herrlich, das ich fast jeden Abschnitt zweimal lese. Ich lasse das Buch sinken und blicke auf: der Zigarettendampf hat groteske Gestalten angenommen, die wieder in nichts verfließen.

Grethes Faust liegt vor mir: ich genieße die wunderbaren Stangen der Zueignung, das Wortspiel auf dem Theater, den Prolog im Himmel.

Nach dem Mittagessen vertiefe ich mich wieder in den Golem, gegen Abend kommt mein Freund, wir gehen in die Stadt; es ist empfindlich kalt, doch das Laufen erwärmet, die frische Luft tut wohl, wenn man längere Zeit in der Stube gesessen. Wir sprechen über vieles, meistens Philosophie, doch wir werden nicht einig, wir haben zu verschiedene Anschauungen. Mein Freund ist ungläubig, unsere christliche Religion ist ihm zu unwahrscheinlich.

Zu meiner Großmutter gehen wir mit heran, und die alte, einsame Dame freut sich über unseren Besuch. Nach dem Abendessen bin ich ganz allein, Vater und Mutter sind zu Bekannten, ich weile in dem alten, winkligen Judenviertel der Stadt Prag; und als es Zeit zum zu Bette gehen ist, lege ich das Lesezeichen in die Mitte des Buches. Als der Wecker am nächsten Morgen sein gellendes Lied singt, ist die Stube noch voll  Dämmerung. Schnell in die Kleider. Die Straße liegt still da, eine schmutzige Schneedecke saugt jeden Laut auf, die Häuser erscheinen in dem unsicheren Lichte wie zusammengekauerte, riesige Ungeheuer mit glühenden Augen. Ein bleigrauer Himmel spannt sich über all das. Da bin ich plötzlich auf der Straße und eile zum Büro. Ich habe tüchtig zu tun mit der Inventur, mit den Monatsabschlüssen, meine Tagebuchaufzeichnungen kann ich nur flüchtig machen.

Die Sätze gefallen mir nicht recht, ich kann nicht lange daran feilen, ich schreibe wie es aus der Feder kommt. Die Arbeit macht Spaß, kleine Zahlen kritzeln, rechnen, lange Reihen aufaddieren. Anders wie im Sommer, da hieß es: die Zeit absitzen. Doch der Winter bringt viel Unannehmlichkeiten mit sich: Schnupfen, kalte Füße, zu Hause ist's nicht recht warm (Kohlenknappheit) abends schlechtes Licht: es ist ein elendes Leben in dieser bösen Zeit. So geht ein Tag wie der andere dahin. Arbeit, Arbeit. Donnerstag, Freitag, Schule. Da hat man kaum Zeit, die Zeitung zu lesen, geschweige denn ein Buch.

 

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1918-01-03 hh:mm