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Tagebuch Doc12
2010-10-22 08:05
Der weinende Clown - 92
Eine kleine Pause entstand, dann meinte er: „Aber wir wollen den Löffel ja nicht zerstören. Er wird sicherlich noch gebraucht.“ Der Löffel wurde wiederum weich, der Stiel bog sich wieder, der Knoten löste sich und schließlich lag der Löffel unversehrt so da, wie Sarah ihn auf den Tisch gelegt hatte.

„Gottfried! Du solltest ins Fernsehen!“, rief Sarah.
„Und was sollte ich da? Die Leute beeindrucken oder sie unterhalten, oder was? Nein, nein. Ich beschäftige mich lieber mit sinnvolleren Dingen, glaub mir.“
„Und du meinst, ich könnte das auch?“, fragte sie gespannt.
„Klar kannst du das auch. Doch welchen Sinn siehst du darin, dein ganzes Besteck zu verbiegen, meine Liebe? Wenn man die Gedankenkraft einsetzt, sollte man sie mit Bedacht und vorsichtig einsetzen – vor allem aber zum eigenen Nutzen und zum Nutzen anderer. Alles andere wäre Energieverschwendung. Du schaltest deinen Elektroherd ja auch nicht ein, wenn du keinen Topf darauf stehen hast, oder?“
„Bruno und du – ihr habt immer so einfache Erklärungen und Vergleiche. Für euch beide ist anscheinend alles immer ganz einfach.“
„Ist es auch. Nur denkt der Mensch oft zu kompliziert. Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“
„Gerne.“

„Es war einmal ein alter Mann. Er hatte drei fast gleichaltrige Söhne. Als er merkte, dass seine Tage gezählt sind, machte er sich Gedanken darüber, wie er sein kleines Vermögen vererben sollte. Er beschloss, es nicht zu drei gleichen Teilen zu vererben, da es dann zu wenig wäre und keiner der Söhne wirklich etwas davon hätte. So teilte er ihnen auf dem Sterbebett mit, dass er sein Vermögen versteckt hätte und derjenige der Söhne, der es fände, dürfe es behalten. Dann schloss der Mann die Augen für immer und verließ seinen irdischen Körper. Die Söhne begannen zu suchen. Der eine grub den Garten um, der andere suchte in allen Schränken, in Schubladen, im Dachboden, im Keller, in jedem verborgenen Winkel. Der Jüngste jedoch dachte sich: Egal, mir liegt nichts daran, ich brauche das Geld nicht, ich kann mein Leben auch so meistern. So bat er seine Brüder lediglich um einen Schrank aus seines Vaters Zimmer. Seine Brüder lachten ihn aus, nicht aber ohne den Schrank vorher gründlich zu durchsuchen. Als sie nichts fanden, gestatteten sie ihm, den Schrank zu nehmen. Der Jüngste zerlegte den Schrank. Als er den Schrankdeckel abnehmen wollte, fand er das gesamte Geld ganz offen oben auf dem Schrank liegen. Er nahm es, teilte es in drei Teile, nahm seinen Teil und den Schrank an sich und gab seinen Brüdern den gerechten Anteil.“

„Darüber kann man sich Gedanken machen ...“, brummte Bruno.
„Es ist der Beweis dafür, dass der Mensch zu kompliziert denkt – und es ist zugleich aber auch ein Beispiel für die rechte Handlungsweise“, schloss Gottfried seine Erzählung ab.
Sarah, die ganz still geworden und förmlich an Gottfrieds Lippen gehangen war, fragte plötzlich ehrfürchtig: „Sag mal Gottfried, wer bist du? Noch nie im Leben habe ich einen Menschen wie dich kennen gelernt.“
Lächelnd meinte Gottfried: „Ich bin Brunos Freund. Und nun auch ein Freund von dir – vorausgesetzt natürlich, du nimmst meine Freundschaft an.“
„Welche Frage!“
„Selbst wenn ich viel unterwegs bin und viel zu tun habe, in Gedanken bin ich stets bei euch und auf meine Hilfe könnt ihr immer zählen, wenn ihr sie braucht. Bruno weiß das.“

Bruno nickte, senkte den Kopf und sah zu Boden. Er wollte nicht, dass Sarah seine Augen sah, die vor Rührung feucht geworden waren.
„Wie lange seid ihr eigentlich schon befreundet?“, wollte sie wissen.
„Seit ewigen Zeiten, liebe Sarah. Und ich weiß, unsere Freundschaft geht nicht nur bis zum Lebensende. Sie geht über den Tod hinaus“, antwortete Gottfried.
„So einen Freund hätte ich auch immer gerne gehabt“, sagte Sarah leise.
„Jetzt hast du ihn. Er sitzt vor dir.“

Schweigend und sichtlich berührt stand Sarah auf und lief unter einem Vorwand in die Küche. Als sie das Zimmer kurz darauf wieder betrat, ging sie auf Gottfried zu, nahm seinen Kopf in beide Hände und gab ihm spontan einen Kuss auf die Wange. „So – das war mir jetzt ein echtes Bedürfnis“, sagte sie leise. Gottfried lachte sie an und drückte ihre Hand. „Jetzt möchte ich noch ein Glas Wein und dann muss ich mich verabschieden.“
„Bleib noch ein bisschen – wir sehen uns doch so selten“, bat Bruno schmunzelnd. Er nahm die Flasche und goss die Gläser wieder voll.
„Eines fernen Tages werden wir viel Zeit füreinander haben, mein Freund.“
„Der Wein in dieser Flasche scheint kein Ende zu nehmen. Nun trinken wir schon den ganzen Abend davon“, wunderte sich Sarah, nahm die Flasche in die Hand, beäugte sie argwöhnisch und stellte sie wieder auf den Tisch zurück.
„Das liegt vermutlich am Jahrgang“, erwiderte Gottfried und lächelte sie spitzbübisch an, dann nahm er sein Glas und hob es in die Höhe. Sarah und Bruno taten es ihm nach. „Trinken wir auf euch beide.“
„Nein“, protestierte Sarah. „Trinken wir auf uns drei.“
„Auf uns drei“, wiederholte Bruno.

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unbekannt
18:53 22.10.2010
Das letzte Abendmahl.

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2010-10-22 08:05