Eine ganze Weile saß er gedankenversunken da, die Arme verschränkt, mit geschlossenen Augen, die Strahlen der Frühlingssonne genießend. Die Bibel lag neben ihm auf der Bank. Als er die Augen schließlich wieder öffnete, sprach ihn eine weibliche Stimme an: „Verzeihen Sie, sind sie vielleicht ein Pfarrer oder so?“
Die Frage kam von einer schlanken, dunkelblonden und dezent geschminkten Frau mit rosigen Wangen, die neben ihm auf der Bank Platz genommen hatte, und die er, in seinen Gedanken versunken, überhaupt nicht bemerkt hatte. Er schätzte sie auf Anfang Vierzig. Sie sah ernst aus.

„Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte Bruno etwas überrascht.
„Na ja – die Bibel neben Ihnen. Da dachte ich ...
„Sehe ich vielleicht so aus?“
„Wenn ich ehrlich bin – nein.“
„Aber Sie müssen ein Engel sein“, sagte Bruno und lachte.
„Das bin ich ebenso wenig wie Sie Pfarrer sind“, bemerkte sie und um ihren Mund spielte ein feines Lächeln.
„Brauchen Sie einen?“, wollte Bruno wissen.
„Einen Pfarrer? Eigentlich nicht – obwohl es manchmal schön wäre, wenn man mit jemandem über die eigenen Probleme reden könnte“, meinte sie.
„Muss dieser Jemand dazu unbedingt Pfarrer sein?“
„Nein, nicht unbedingt – aber normalerweise sind Pfarrer immer so verständnisvoll ...“
„... und labern Sie mit allen möglichen Dingen über Gott voll, obwohl die ihren Glauben oft selbst nicht richtig verstehen, aber geholfen ist damit nicht“, ergänzte er.
Finden Sie? Haben Sie etwas gegen Pfarrer?“
„Antwort auf Frage eins: Ja, finde ich. Antwort auf Frage zwei: Nein – vorausgesetzt, sie lassen mich in Frieden.“

Eine kurze Pause entstand, dann fragte Bruno: „Haben Sie denn welche?“
„Was?“
„Probleme.“
„Sicher. Wer hat die nicht?“
„Da haben Sie Recht“, brummte Bruno und nickte. „Da haben Sie wirklich Recht.“
„Lesen Sie öfter in der Bibel?“
„Nein. Nur selten. Vielleicht zu selten. Ich weiß es nicht.“
„Ein Buch, das sehr viele Lebensweisheiten enthält“, bemerkte sie.
„Aber ganz sicher auch viele Märchen, denke ich.“
„Wie kommen Sie zu dieser Ansicht? Sind Sie da sicher?“
„Ganz sicher. Denn sehen Sie: Die Bibel ist zweifelsohne ein gutes Buch, doch sie ist keine Information aus erster Hand, weder Gott noch Jesus haben sie selbst geschrieben, sondern sie wurde von vielen verschiedenen Menschen verfasst, dann übersetzt, dann wieder zurückübersetzt – da passieren Fehler, da gibt es Fehlinterpretationen, da werden Dinge vergessen, andere hinzugefügt ...“

„Aber die Kirche ist auf ihrem Inhalt aufgebaut!“
„Ich weiß. Ein kapitaler Fehler übrigens.“
Ihr Blick wurde nachdenklich. „Wie heißen Sie eigentlich?“, wollte die junge Frau unvermittelt wissen.
„Bruno“, sagte Bruno.
Die Frau lachte.
„Was gibt es da zu lachen?“
„Ein seltener, etwas eigentümlicher alter Name.“
„Stimmt. Schuld daran ist meine Mutter. Ich hatte schon öfter das Bedürfnis, sie dafür zu erschlagen.“ Er grinste.
„Ich heiße übrigens Sarah.“
„Auch nicht gerade sehr einfallsreich und vermutlich noch viel, viel älter“, bemerkte Bruno.
„Was machen Sie denn beruflich, wenn Sie kein Pfarrer sind?“, fragte Sarah.
„Neugierig sind Sie ja überhaupt nicht! Typisch Frau!“, flachste er und sah sie von der Seite an.
„Oh, ich kenne auch neugierige Männer. Neugierde ist nicht geschlechtsspezifisch,“ erwiderte sie spitzbübisch, lachte dabei und eine Reihe gepflegter Zähne kam zum Vorschein.
„Ich bringe die Leute zum Lachen – zumindest versuche ich es.“
„Aha, Sie sind also Clown. Der Clown mit der Bibel. Und aus der holen Sie sich wohl ihre Anregungen?“
„Kaum. Ich bin Schriftsteller.“
„Sie schreiben also lustige Sachen?“
„Genau – lustige Sachen“, wiederholte er.
„Artikel?“
„Bücher und Theaterstücke.“
„Oh! Haben Sie schon etwas veröffentlicht?“
„Ja.“
„Und was?“
„Bücher und Theaterstücke.“ Er grinste.
„Weshalb dann die Bibel?“
„Ich habe heute meinen ernsten Tag und bin etwas in mich gegangen.“