Willkommen auf Tagtt!
Tuesday, 16. April 2024
Tagebücher » Doc12 » News, Bilder, Videos - Online
Tagebuch Doc12
2010-11-12 06:19
Der weinende Clown - 112
Etwa gegen fünfzehn Uhr betrat er den Biergarten vom Gasthof „Zum Ochsen“. Es war ein typischer bayerischer Biergarten, genau so, wie man sich einen bayerischen Biergarten vorstellt: Hohe, breit ausladende Schatten spendende Kastanienbäume, an deren Stämmen eine Lichterkette mit bunten Glühlampen befestigt, darunter Holztische und -bänke auf dem bekiesten Boden, zwei rustikale Kellnerinnen im Dirndl schwitzend über den knirschenden Kies eilend, Speisen und Getränke schleppend – eine abgeschlossene Welt für sich, ähnlich einer Insel.

Bruno sah sich suchend um. Ihm war nicht so richtig klar, nach was er suchte. Nach einem stattlichen, braungebrannten Mann im Anzug mit weltmännischem Flair? So sehr er sich auch anstrengte, er konnte keinen sehen. Zögernd ging er weiter. An einem der Holztische sah er einen alten graubärtigen Mann sitzen, mit Janker, in Lederhosen und Wadenstrümpfen, auf dem Kopf trug er einen Trachtenhut mit einem ausladenden Gamsbart, der lustig hin und her wippte, aus seinem Mund hing eine rauchende Hängepfeife. Er sah aus wie ein Bilderbuch-Bayer aus dem frühen vorigen Jahrhundert. Gerade als Bruno an seinem Tisch vorbei gehen wollte, meinte der Alte in urbayerischem Dialekt: „Du! Kimm, setz di a bisserl her
zu mir! Host a wengerl Zeit? Bruno drehte sich erstaunt nach dem Mann um, dann antwortete er zögernd: „Eigentlich – ja, eigentlich nicht. Ich bin mit jemandem verabredet, wissen Sie.“
„So, so. Mit wem denn?“
Gerade als Bruno entgegnen wollte, dass ihn das wohl nichts anginge, redete der Alte weiter: „Bist vielleicht mit dei’m Freund Gottfried verabredet?“
Jetzt erst fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Grinsend stellte er die Gegenfrage: „Heißt du vielleicht zufällig so?“
„Eahm schaug o, endlich hot’s gschnacklt in dei’m Hirn“, gab der Alte zurück und lächelte, wobei er eine dicke blaue Rauchwolke aus dem Mund stieß. Bruno setzte sich neben ihn und sah den Alten fasziniert an. „Seit wann raucht Gott?“
„Jo mei, des g’hört halt a dazu, wann’d a gscheits Mannsbuild sei wuist.“
„Dein Dialekt ist ja ganz nett, aber können wir uns nicht normal unterhalten?“
„Warum? Bist du vielleicht a Preiß?“
„Ne – aber dein bayerischer Urdialekt ist etwas gewöhnungsbedürftig“, antwortete Bruno lachend und meinte: „Außerdem ist dein Outfit leicht übertrieben – ich finde, du bist overdressed.“
„Spaß muss sein“, antwortete Gottfried.
„Also – nun – was ist mit dieser Geschichte?“, wollte Bruno neugierig wissen.
„Jetzt wird zuerst gegessen, mein Freund – du bist hungrig.“

Gottfried hatte kaum den Satz beendet, als die Kellnerin zwei Teller mit Weißwürsten und zwei Radlerhalbe auf den Tisch stellte. Kurz darauf brachte sie einen Korb mit frischen Brezeln. Bruno staunte. „Aber wir haben doch noch gar nicht bestellt ...“, murmelte er und schüttelte den Kopf.
„Ich habe das telepathisch veranlasst“, antwortete Gottfried, nahm seine Pfeife aus dem Mund und legte sie neben sich auf den Tisch. Ich hätte die Weißwürste und die Brezeln aber auch selbst schnell erschaffen können, aber wir wollen hier ja nicht unangenehm auffallen, nicht wahr?“
„Könnte aber recht lustig werden.“

„Mahlzeit! Lass dir’s schmecken, du bist übrigens mein Gast.“
Grinsend meinte Bruno: „Da fällt mir übrigens gerade ein Tischgebet aus Kindertagen ein: Lieber Gott, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Wäre hier aber unpassend, denn ich bin ja dein Gast.“
„Ihr seid stets immer meine Gäste gewesen, auch wenn es euch nur ganz selten bewusst ist,“ antwortete Gottfried lächelnd. „Ihr wart immer meine Kinder – und die Welt ist euer Haus.“
„Schön – nur sind deine Kinder heute etwas daneben geraten, habe ich so das Gefühl. Wenn man sich die Leute heutzutage so ansieht und darüber nachdenkt, was sie so alles treiben, dann könnte einem manchmal schlecht werden.“
„Heutzutage? Nein, mein Sohn. Die Menschen waren schon immer so – und sie werden sich wohl nicht so schnell ändern. Schon in den alten Kulturen waren die Menschen nicht anders – und dennoch sollte man nicht pauschalieren und nicht alle in einen Topf werfen. Was stört dich denn an den Menschen?“
„Die Raffgier, der Neid, der Egoismus und diese ausgeprägte Oberflächlichkeit der sogenannten modernen Konsumgesellschaft“, antwortete Bruno.
„Tja, mein Freund, es sind nicht alle so, doch ich weiß: Eine Gesellschaft, die sich nur am Konsum, Egoismus und an Oberflächlichkeiten orientiert, ist keine Wertegesellschaft – aber das gab es zu jeder Zeit und die Folge war immer, dass diese Völker zuerst degenerierten und danach ausstarben. Es war bei den alten Griechen so, bei den Römern ebenfalls – im Grunde haben sie sich selbst ausgerottet. Euch wird es nicht anders ergehen und ich könnte dir viele Dinge aufzählen, an denen es bei euch krankt. Übrigens gibt es einen Zeitgenossen, einen Poeten, der nicht weit von dir entfernt lebt. Er heißt Stefan Hämmerle.“
„Aha. Und?“
„Er ist ein einfach denkender Mensch, aber sehr lebenserfahren und weise. Du solltest ihn kennen lernen. Er schrieb einmal: ,Als ich über die schneebedeckten Berge zog und mir der kalte Wind ins Gesicht blies, war ich gesund. Als ich den Städten der Menschen eisige Kälte spürte, musste ich weinen.’ Er hat eine Wahrheit geschrieben.“

„Na Mahlzeit“, meinte Bruno nachdenklich.

Kommentare


unbekannt
19:11 14.11.2010


Kommentar löschen
Soll der Kommentar wirklich gelöscht werden?
Löschen | Abbrechen

Kommentieren


Nur für registrierte User.

Doc12 Offline

Mitglied seit: 21.07.2010
53 Jahre, DE mehr...
Wirklich beenden?
Ja | Nein

2010-11-12 06:19