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Tagebuch Doc12
2010-11-05 07:54
Der weinende Clown - 105
Er wachte bereits am frühen Morgen auf. Die halbe Nacht lang war er unruhig im Bett gelegen, sich hin und her wälzend. Jetzt stand er etwas besorgt vor dem Waschbecken des Krankenzimmers und rasierte sich. Donatello schlief noch und schnarchte dabei friedlich und gleichmäßig vor sich hin.
Brunos Gedanken kreisten ständig darum, ob es richtig gewesen war, seinem Bettnachbarn von seinem Buch zu erzählen. Welcher Teufel hatte ihn da geritten? Jetzt hing ihm ein hausgemachtes Problem am Hals und er wusste nicht, wie er es lösen sollte. Andererseits hatte ihn innerlich etwas dazu getrieben; er fühlte sich in gewisser Weise sogar erleichtert. Dennoch befand er sich im Zwiespalt und für ihn stand fest: Sobald er zu Hause war, würde er telefonieren müssen ...

Die Tür ging auf und eine schon etwas ältere Krankenschwester stand im Zimmer. Als sie Bruno am Waschbecken sah, nahm ihr Gesicht einen Ausdruck an, als hätte sie eben in eine Zitrone gebissen.
„Was machen Sie denn da?
„Ich rasiere mich – ich mache das fast jeden Tag – man nennt es Körperpflege“, antwortete er lässig und grinste sie schräg von der Seite an.
„Aber es ist erst fünf Uhr dreißig!“
„Ich bin das frühe Aufstehen vom Beruf her so gewöhnt“, log er.
„Warum? Sind Sie Bäcker?“
„Nein, der Assistent vom städtischen Bademeister – aber wenn ich groß bin, möchte ich Tierärztin werden.“ Er grinste breit über das ganze Gesicht.
Die Schwester schüttelte den Kopf und verzog keine Miene. „Meinetwegen. Doch jetzt gehen Sie bitte in Ihr Bett zurück, der Arzt kommt gleich zur Visite.“
„Mitnichten.“
„Bitte??“
„Ich lasse mich von keiner Frau dazu nötigen, ins Bett zu gehen, dafür bin ich zu emanzipiert.“
Das Gesicht der ältlichen Krankenschwester begann langsam rot anzulaufen. Etwas lauter sagte sie: „Wenn Sie meinen Anweisungen nicht Folge leisten, sage ich sofort dem Dienst habenden Arzt Bescheid!“
„Tun Sie das ruhig“, erwiderte Bruno und fügte hämisch grinsend hinzu: „Bestellen Sie ihm einen lieben Gruß von mir und richten Sie ihm bitte aus, dass ich in spätestens einer halben Stunde das Haus verlasse – wenn es sein muss, sogar ohne Frühstück.“
„Das ist ... das ist ... unmöglich, ist das!!“ rief die Schwester ungehalten.

„Pssst! Nicht so laut!“ Bruno legte den Zeigefinger auf den Mund und deutete mit dem Kopf auf den schlafenden Clown. „Wollen Sie unbedingt, dass unser Baby hier aufwacht?“
Die Krankenschwester schnappte wie ein Fisch nach Luft. „Das hier ist ein Krankenhaus und kein Hotel – da kann nicht einfach jeder kommen und gehen, wie es ihm passt!“
„Ich bin nicht Jeder, sondern Bruno Steiger, der Assistent vom städtischen Bademeister und wenn ich groß bin, dann will ich ...“, erwiderte er in gespieltem Ernst und musste sich beherrschen, nicht laut loszulachen. Die Schwester verließ fluchtartig das Zimmer. Bruno ging zum Spind, holte seelenruhig seine Kleidung heraus und begann sich anzuziehen.

Keine drei Minuten später öffnete sich die Tür, die Krankenschwester und ein großer schlanker Arzt standen im Zimmer. Bruno schätzte ihn auf gut vierzig Jahre.
„Sehen Sie selbst, Herr Doktor, er hat sich bereits angezogen!“ keifte die Schwester giftig.
Der Arzt winkte ab und meinte mit ruhiger Stimme zu Bruno gewandt: „Ich hoffe, Sie wissen, was Sie da tun. Mein Kollege Mayrhofer hat mir bereits mitgeteilt, dass Sie uns vorzeitig verlassen werden. Ich weise Sie aber vorsorglich noch einmal darauf hin, dass Sie dies auf eigene Verantwortung tun. Ist Ihnen das klar, Herr Steiger?“
„Völlig klar. Und keine Angst, Herr Doktor, ich nehme die Verantwortung auf mich. Das habe ich übrigens mein ganzes Leben lang schon so gehalten und daran wird sich hoffentlich auch in nächster Zeit nicht viel ändern, denke ich – zumindest solange ich noch alle Tassen im Schrank habe“, antwortete er ironisch.
„Nun gut, aber ...“ Bruno ließ ihn nicht ausreden, sondern fuhr fort: „Ich glaube nicht, dass eine Sehnenscheidenentzündung, eine verspannte Schultermuskulatur und ein vielleicht eingeklemmter Nerv einen einwöchigen Krankenhausaufenthalt rechtfertigen. Der tiefere Sinn, weshalb ich hier war, ist nicht mein Arm, sondern hat einen ganz anderen Grund, den ich Ihnen aber nicht erklären kann und will – Sie würden ihn nicht verstehen.“
Der Arzt sah ihn verständnislos an, die bissige Krankenschwester verzog ärgerlich die Mundwinkel nach unten und schüttelte den Kopf.
„Ich bin sicher, Sie möchten jetzt, dass ich Ihnen ein Entlassungsformular unterschreibe, habe ich Recht?“
Der Arzt reichte ihm ein Klemmbrett mit dem Entlassungsformular und einen Kugelschreiber. Bruno nahm es, setzte seine Unterschrift auf das Dokument und gab ihm beides zurück. Der Mediziner öffnete die Tür und wollte ihn hinausbegleiten, doch Bruno rührte sich nicht von der Stelle.
„Ist noch was?“
„Könnten Sie mich einen Augenblick allein lassen?“
„Weshalb?“
„Ich möchte mich von meinem Bettnachbarn verabschieden.“
„Aber der schläft doch.“
„Das macht nichts.“
Die beiden Weißkittel verließen zögernd das Zimmer.

Bruno setzte sich neben den selig schlummernden Donatello auf die Bettkante, betrachtete ihn nachdenklich eine Weile, dann streichelte er ihm beinahe zärtlich über die Wange. In diesem Augenblick empfand er fast so etwas wie Liebe für ihn. „Mach’s gut, Bruder – wir sehen uns“, flüsterte er, stand auf, zog einen Kugelschreiber und einen Zettel aus der Brusttasche seiner Jacke, schrieb seinen Namen sowie seine Telefonnummer darauf und legte das kleine Stück Papier auf den Nachttisch. Dann drehte er sich um, ging zur Tür, blieb für einen kurzen Augenblick stehen, als ihn etwas in seinem Innern drängte, noch einmal einen Blick auf den schlafenden Clown zu werfen. Was hatte er doch vorhin gesagt? „Mach’s gut, Bruder ...“
Es war ihm völlig unbeabsichtigt über die Lippen gekommen – plötzlich wurde ihm schlagartig klar, weshalb. Er ging zum Spiegel, betrachtete mehrere Male sein Gesicht und dann wieder das des Clowns.

Kommentare


unbekannt
19:27 05.11.2010
wow

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2010-11-05 07:54