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Tagebuch cbrost
2004-11-30 11:23
Soziale Viren
Soeben bekam ich eine Kettenmail, in der mal wieder jemand einen Knochenmark-Spender sucht. Ich löschte sie. Ein anderer Empfänger nicht und antwortete an alle mit diesem Artikel. Endlich sagt das mal jemand.
Die Tränendrüsen-Mails

So grassiert zum Beispiel ein gefälschter E-Mail-Hilfsaufruf zum
Knochenmarkspenden. Die Folge: Hunderte Anrufe pro Tag bei einer
ahnungslosen Privatperson. "Soziale Viren" sind E-Mail-Texte, die ihren
Empfängern eine Notsituation vortäuschen und sie zu einem bestimmten,
unsinnigen Verhalten veranlassen. "Soziale Viren" werden rasend schnell
über das Internet weitergeleitet. Dies ist offenbar mit einer Mischung aus
virtueller Hilfsbereitschaft und humanitärem Hedonismus bei Millionen von
Internetnutzern zu erklären. Dabei kann die Wirkung für einzelne Menschen
verheerend sein.

Im deutschsprachigen Raum wird seit Monaten wieder verstärkt ein
Kettenbrief per E-Mail verbreitet, in dem für eine angeblich an Leukämie
erkrankte junge Frau in Bayern ein Knochenmarkspender gesucht wird. Darin
wird fälschlicherweise behauptet, Julia S. im Raum München sei
leukämiekrank und habe nur noch wenige Wochen zu leben, wenn sich nicht ein
passender Spender findet. Personen mit der selben Blutgruppe werden
gebeten, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, wozu Anschrift, Telefon- und
Fax-Nummern sowie eine E-Mail-Adresse angegeben sind. Außerdem die
Aufforderung: "Sendet bitte diesen Brief an alle, die Ihr kennt !!!" Auf
diesen schlechten Scherz sind seit Ende 2000 wohl Hunderttausende
Internetnutzer in Deutschland hereingefallen.

Sie haben diese E-Mail mit der Überschrift "Knochenmarkspender Blutgruppe
AB Rhfkt. negativ gesucht – bitte wenigstens weiterleiten" in ihrem
Freundes- und Bekanntenkreis verbreitet. Wie bei einer langsam ins Rutschen
geratenen Schneelawine entstand aus wenigen weitergeleiteten E-Mails eine
Welle der – lediglich virtuellen – Hilfsbereitschaft. Das massenhafte
Weiterleiten der E-Mail machte aus der im Internet erfundenen Patientin in
der Wirklichkeit ein Opfer. Julia S. wurde überhäuft mit Telefonanrufen,
Faxen, E-Mails und Briefen von wildfremden Menschen, die ihr helfen wollten
und fragten, wo man Blut spenden könne. In der Spitze mehrere hundert
Anrufe erreichten sie im vergangenen Jahr an ihrem Arbeitsplatz in einer
großen Werbeagentur im Raum München. Der Urheber der Ketten E-Mail hatte
ihre dienstliche Telefondurchwahl angegeben.

Ähnlich erging es einem Mitarbeiter der Uniklinik Regensburg, dessen
dienstliche Adresse und Telefonnummer hinzugefügt waren. Ein gemeiner
Kettenbrief, der jede Menge Ärger macht. An Arbeiten war nicht mehr zu
denken. Julia S. und die Werbeagentur waren gezwungen, einen
Anrufbeantworter zu installieren. "Es handelt sich um einen ganz gemeinen
Kettenbrief, mit dem weder ich noch mein Arbeitgeber etwas zu tun haben"
hören dort die auch heute noch zahlreichen täglichen Anrufer. Auch die
Telefonzentrale der Werbeagentur blieb nicht verschont, da in der
Ketten-E-Mail die zentrale Telefonnummer der Firma erkennbar war. "Dort
können wir natürlich keinen Anrufbeantworter schalten", klagt die
Telefonistin. "Unendlich viel Ärger hat uns der Kettenbrief bereitet", sagt
die Pressesprecherin und bittet darum, dass die Firma nicht mehr namentlich
mit den E-Mails in Verbindung gebracht wird. Sie hofft, dass die Empfänger
von Kettenbriefen viel kritischer werden und diese im Zweifelsfall gleich
löschen.

Ein Helfer wird plötzlich selbst zum Opfer So sieht es auch Heiko Spatz aus
Goldbach bei Aschaffenburg, der am eigenen Leib beziehungsweise Handy
tagtäglich erfahren muss, dass auch "Möchtegern-Helfer" zu Opfern werden
können. Der Außendienstmitarbeiter eines großen Handelshauses hatte im
vergangenen Sommer ebenfalls die Ketten-E-Mail erhalten. Er erweiterte den
Text um eine persönliche Bitte zur Teilnahme an dieser "E-Mail-Hilfsaktion"
und leitete den Aufruf an die Adressen in seinem E-Mail-Verteiler weiter.
Wie üblich erzeugte das E-Mail-Programm auf seinem Rechner am Anfang des
elektronischen Briefes noch eine persönliche Signatur mit der vollständigen
Adresse von Spatz samt dienstlicher Nummer seines Mobiltelefons. Ein
Empfänger konnte so bei nur oberflächlichem Lesen der E-Mail den Eindruck
gewinnen, dass Heiko Spatz der Verfasser sei, der für seine "leukämiekranke
Freundin" um Hilfe bittet. Offenbar wurde sein E-Mail-Text nachträglich
noch so verändert, dass in der aktuell zirkulierenden Textversion
ausschließlich diese Interpretation möglich ist. "Gut gemeint, aber es
nervt unglaublich". Etwa fünfzig bis sechzig telefonische Hilfsangebote am
Tag erhält Spatz seit mehreren Wochen auf seinem Handy. Der 30-jährige
Familienvater hat nur wenig Hoffnung, dass die Anrufe, die ihn "zu jeder
Tages- und Nachtzeit erreichen", bald weniger werden.

Denn mit den heute üblichen E-Mail-Programmen ist es möglich, binnen einer
Minute an Dutzende von weiteren E-Mail-Adressen einen empfangenen
elektronischen Brief zu verteilen. Die Kosten betragen nur wenige Cents.
Mit großer Freundlichkeit versichern ihm die fremden Anrufer, dass sie
"seinen Appell zur Hilfe" all ihren Bekannten weitergeleitet hätten.
"Darunter sind besonders viele Menschen, die mitteilen, sie seien kirchlich
aktiv", berichtet Spatz. Einige erklärten ihm, sie hätten "seinen
Hilfsaufruf" in den Gemeindeblättern ihrer Kirchengemeinde abgedruckt. Eine
Anruferin aus Sachsen erkundigte sich nach weiteren Hilfsmöglichkeiten,
nachdem sie den „Hilfsaufruf“ samt Namen und Handynummer von Spatz im
"Wochenendkurier Bautzen" gelesen hätte. Andere lasen von diesem auf
Internetseiten oder in Chat-Foren. Manche Anrufer drückten lediglich ihr
Bedauern aus, dass sie "die falsche Blutgruppe" hätten. "Das ist ja alles
gut gemeint, aber es nervt unglaublich", stöhnt Spatz. Aus Kostengründen
kann Spatz nicht einfach wie Julia S. eine neue Telefonnummer schalten
lassen, da bei den Handelsvertretern des Unternehmens die vier Endziffern
der Handynummer den einzelnen Verkäufern zugeordnet sind und für weitere
personalisierte Marketingfunktionen eingesetzt werden.

Spatz lässt keine Hilfe unversucht. Einmal notierte er alle Namen von
Anrufern sowie die E-Mail-Adressen, von denen sie die Ketten-E-Mail
empfangen hatten und an die sie ebenfalls in Kopie geschickt worden war.
Allein an einem Tag kam er auf mehr als 400 Personen, die er dann anschrieb
mit der Bitte, die E-Mail zu löschen und nicht mehr zu verteilen. Die
"Tränendrüsen"-E-Mail ist mittlerweile zu einem "sozialen Virus" geworden,
der epidemieartig besonders hilfsbereite Menschen und sozial engagierte
Multiplikatoren befällt. Er verbreitet sich viel schneller als die
Nachricht über den Irrtum von Heiko Spatz und anderen. Epidemieartig
breitet sich der Virus aus. Warum, darüber kann spekuliert werden.
Sicherlich zu einem gewissen Anteil aus dem gut gemeinten, aber letztlich
doch naiven Wunsch zu helfen oder zumindest politisch korrekt an einer
"guten Sache" teilzuhaben. Vermutlich meinen viele Menschen, dass sie
bislang Leukämiekranken oder anderen Hilfsbedürftigen nicht ausreichend
beistehen. Sie fühlen sich von der Aufforderung angesprochen, "wenigstens"
die E-Mail weiterzuleiten. Dankbar erleichtern sie ihre Gewissensnot mit
ein paar Klicks.

Dabei- sein ist alles. Die Folgen – egal ob gut oder schlecht – sind im
Club der Gewissensethiker irrelevant. Der eigentliche Aufruf zur
persönlichen Hilfe für Knochenmarkspender verhallt unter den
Internetnutzern ungehört. 1,8 Millionen Menschen sind derzeit bei einer der
etwa vierzig Stammzellspenderdateien in Deutschland als potenzielle
Knochenmarkspender registriert. Dazu haben sie eine kleine Blutprobe
abgegeben, mit deren Hilfe ihre Gewebemerkmale typisiert werden. Die
Blutgruppe ist – entgegen der Aussage in der Ketten-E-Mail – nicht
entscheidend dafür, ob man später einmal Knochenmark spenden kann oder
nicht. Es kommt vielmehr darauf an, ob die spezifischen Gewebemerkmale
eines potenziellen Spenders zu denen eines Leukämiekranken passen. Die
Wahrscheinlichkeit liegt im Bereich von eins zu mehreren Tausend bis eins
zu mehreren Millionen. Wo es seriöse Informationen gibt. Jährlich wächst
der Bestand im Zentralen Knochenmarkspender-Register Deutschland (ZKRD) mit
Sitz in Ulm, wo die anonymisierten Daten aller potenziellen Spender
gespeichert werden, um gut 100.000 bis 200.000 Personen. Also wohl nur ein
Bruchteil der Anzahl an Internetnutzern, die entsprechende Ketten-E-Mails
erhalten haben. Bisher spenden jährlich mehr als 1.000 Personen mit
passenden Gewerbemerkmalen Knochenmark aus dem Hüftknochen oder Stammzellen
aus dem Blut und geben damit Leukämiekranken eine neue Lebenschance. 

Clemens Christmann, Die Tagespost, Würzburg  22.10.2002

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