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Tagebuch c.
2010-11-08 06:50
Nachtgedanken
Ich kann nicht schlafen. Ich habe keine Ruhe. Schon seit halb drei bin ich wieder wach. Ich schreckte aus einem Traum hoch, in dem ich durstig trank, trank, trank. Tee. Apfeltee. Kannenweise. Ich glaubte fast ihn schmecken zu können. Kaum wach bemerkte ich, dass ich tatsächlich durstig war. Meine Kehle war so trocken wie schon lange nicht mehr.

Nachdem ich meinen Durst gestillt hatte, versuchte ich erneut zu schlafen. Erfolglos. Minute um Minute verging. Nichts. Ich drehte mich von der einen auf die andere und zurück auf die eine Seite. Unruhe. Anspannung.

Ich dachte an meinen Hausmeister. Ich lebe noch immer ohne Waschbecken. Ich hoffe sehr, dass er heute vielleicht dann zur Reparatur vorbeikommt. So prickelnd ist das alles im Moment nicht.

Als ich gestern bei meinen Eltern war, kam nachmittags Besuch vorbei. Zu Kaffee und Kuchen. Ein ehemaliger Schüler meines Vaters. Der ehemalige Schüler meines Vaters, der Medizin studierte und den mein Dad seit einem Jahr immer mal wieder um Rat in Fragen zu seiner und meiner vermeintlichen Gesundheit/Ungesundheit bittet.

Ich wusste nichts von diesem Besuch. Er hatte sich spontan ergeben. Hätte ich es gewusst, wäre ich wohl zu Hause geblieben. Es war mir unangenehm. Es wäre etwas anderes, wenn ich meinen Dad gebeten hätte, diesen ehemaligen Schüler in meinen Angelegenheiten um Rat zu fragen. Aber jemandem zu begegnen, mit dem man über mich als zu lösendes Problem, ja, irgendwie ungefragt und hinter meinem Rücken, gesprochen hatte…Das war irgendwie seltsam. Unangenehm.

Irgendetwas stört mich daran, dass dieser Mensch über mein Leben unterrichtet ist und mir hier und da in Mails Grüße ausrichten lässt, obwohl ich ihn im Grunde kaum kenne. Ich kenne ihn flüchtig. Aus Kindertagen. Meine Eltern haben lange, lange Zeit ihre Osterurlaube in einem bestimmten Dorf in den Schweizer Bergen verbracht. Der ehemalige Schüler samt Mutter und Bruder ebenfalls. Als kleines Mädchen saß ich dort mit ihnen auf Sonnenterassen zusammen und aß Spaghetti. Es gibt ein Foto von seinem Bruder und mir, das das dokumentiert. Damals war ich noch in der Grundschule.

Der ehemalige Schüler meines Vaters hat elf Jahre vor mit Abitur gemacht. Er dürfte also so zwischen zehn und zwölf Jahren älter sein als ich. Was dann im Umkehrschluss heißt, dass er wohl kurz vor seinem Abitur gestanden haben muss, als wir uns zuletzt sahen.

Er beschäftigt mich, dieser Mensch. Letztes Jahr an Ostern waren meine Eltern noch mal in der Schweiz. Durch Zufall trafen sie dort eben diesen Schüler und seine Mutter. Seitdem hat sich ein mehr oder weniger regelmäßiger Kontakt entwickelt. Und seit ich weiß, dass ich in den Gesprächen ebenfalls als Problem thematisiert werde, beschäftigt er mich. Weil…wie gesagt, ich habe nie um seinen Rat zu meinen vermeintlichen Problemen gebeten.

Die Nennung seines Namens ist mir unangenehm. Jedes Mal, wenn ich ihn höre, zucke ich innerlich leicht zusammen. Ich habe eine gewisse Abneigung gegen ihn, obwohl ich ihn im Grunde gar nicht kenne. Vielleicht liegt es daran, dass ich weiß, dass mein Vater sehr viel von ihm hält, ihn sehr schätzt. Er findet nichts als lobende Worte und Bewunderung für ihn.

Weil er einen Weg ging, der mir völlig fremd ist. Weil er, gemessen an den Maßstäben der Gesellschaft, unheimlich erfolgreich ist. Er arbeitet heute im Head Marketing für ein großes Pharmazieunternehmen. Er hat richtig Karriere gemacht, wie man so schön sagt. Verdient sich dumm und dusselig. Besitzt verschiedene Immobilien. Steckt jede Menge Geld in das Haus seiner Mutter, um auch dessen Marktwert zu erhalten. Sein Bruder ist in der Finanzbranche ähnlich erfolgreich. Zwei Jungs, aus denen richtig was geworden ist. Auf die man richtig stolz sein kann.

Mir wird regelmäßig übel am Mittagstisch, wenn ich davon erzählen höre. Wohl weil ich meine, dass der Subtext dieser Erzählungen gleichzeitig jede Menge Erwartungen und Enttäuschung an mich heranträgt. Ich glaube, manchmal geht mir der Sinn für die Wirklichkeit verloren. Ich tue mich schwer damit, Projektion von Wirklichkeit zu unterscheiden. Ich höre so oft unausgesprochene Vorwürfe, Erwartungen und Enttäuschungen…Manchmal glaube ich fast, dass ich mir das alles nur einbilde…Es ist so….festgefahren alles, zu verstrickt. Die ewig selben Muster. Vielleicht sieht man da manchmal wirklich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.

Eines ist mir aber klar. Jedes Mal, wenn mein Dad von seinem ehemaligen Schüler erzählt, wird mir bewusst, dass wir, mein Dad und ich, völlig unterschiedliche Werte im Leben haben. Vielleicht bin ich ja nur eine verwöhnte, verhätschelte und verzogene Prinzessin, die nie im Leben echte Entbehrung kennen lernen musste und daher die Wichtigkeit des Geldes romantisch-verklärt unterschätzt. Schließlich war es ja bisher in meinem Leben immer ausreichend vorhanden.

Aber ich sehe den Sinn meines Lebens nicht darin, Besitz anzuhäufen. Mir liegt nichts an teuren Autos und Luxuswohnungen. Ich glaube nicht, dass Geld wirklich glücklich machen kann. Es erleichtert einem vieles im Leben, das bestimmt, aber mit Geld kann man noch kein Glück kaufen. Der Preis, den der ehemalige Schüler meines Vaters für seinen finanziellen Wohlstand zahlt, findet sich im Privatleben. Dafür ist keine oder kaum Zeit da. Gelegentlich hat er ein freies Wochenende, an dem er in seine alte Heimatstadt kommt. Er reist dann freitags an und sonntags ab. Und hat zwischendrin tausend Termine mit Bekannten. Denn man will ja auch die wenige Zeit optimal ausnutzen. Er scheint mit seiner Arbeit verheiratet zu sein. Jedenfalls höre ich nie etwas von einer Frau oder einem Mann in seinem Leben. Und wenn er auf Heimatbesuch ist, kommt er alleine. Aber genau kann man das nie wissen. Man sollte auch nicht davon ausgehen, dass er seinem ehemaligen Klassenlehrer alles erzählt.

Ständig auf Achse, ständig unter Strom, hier, da und dort in der Welt ein Geschäftstermin….Klingt vielleicht ganz spannend, aber ich glaube kaum, dass er die Zeit hat, um beispielsweise New York mit Ruhe zu genießen. Was nützt einem ein Leben auf der beruflichen Überholspur, wenn es einen Freiheit und Freizeit kostet? Was nützt einem das ganze Geld, wenn man damit nichts anderes anfangen kann, als es anzulegen, zu investieren?

Das waren so meine Gedanken, bevor ich den Schüler gestern zum ersten Mal seit Jahren wieder traf. An meiner Meinung hat sich nicht viel geändert. Er erzählte kochschüttelnd von seiner Zeit als Assistenzarzt, in der sein kleiner Bankerbruder sich dumm und dämlich verdiente, während er selbst noch am Hungertuch nagte. Meine Ma erzählte von ihren jungen Kollegen, von denen immer weniger eine Beförderung im Schuldienst anzustreben scheine. Zustimmendes Kopfnicken auf allen Seiten. Das ist ja auch wirklich nicht nachvollziehbar, dass jemand mit der niedrigsten Gehaltsstufe des Beamtendaseins völlig zufrieden ist, weil ihm die eigene Freiheit wichtiger ist und er sich nicht für einen Beruf aufreiben will. Besonders mein Vater hat kein Verständnis für diese Karriereverweigerer. Erst letztens schüttelte er genauso den Kopf über meinen Patenonkel, der in seiner gesamten Schullaufbahn auch nie nach Beförderungen strebte, auch wenn er es, unter anderem auf Grund einer Behinderung, fast ohne Anstrengung hätte schaffen können.

Ja, wer weiß, vielleicht kann ich mir den Luxus, den Wert des Geldes zu unterschätzen, tatsächlich nur leisten, weil ich nie auf etwas verzichten musste. Man weiß es nicht. Vielleicht bin ich wirklich weltfremd. Mag sein.

Ach, verflucht, der gestrige Nachmittag hält mich wach. Er beschäftigt mich viel zu sehr. Natürlich blieben die vermeintlich lustigen Spitzen meines Dads gegen mich auch nicht aus. So stellte er auch wieder klar, dass es für mich und meine Zukunft erst einmal nur das Geldverdienen geben darf. Job, sonst Kasse. Weiterbildung/Umschulung/Praktika? Ist nicht, ham‘ wir nicht, kriegen wir auch nicht mehr rein!

Dann kam das Gespräch auf Weihnachten. Lustig wie er ist, fragte mein Dad mich: „Und was machst du an Weihnachten? Du hast doch nicht vor, hierher zu kommen, oder?“ Meine Ma protestierte und bedauerte, meinen Vater nicht vors Schienbein treten zu können. Der ehemalige Schüler merkte an, dass ich ja selbst die Möglichkeit zum Schienbeintreten gehabt hätte. Mein Dad meinte nur: „Die Hand, die einen füttert, beißt man nicht.“ Ja, ja. Alles furchtbar lustig.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass das so gut ankam. Bei dem Schüler. Ich kann mir dagegen doch sehr gut vorstellen, dass das tatsächlich der Grundüberzeugung meines Vaters entspricht. So lange er bezahlt, darf er auch über mein Leben bestimmen.

Eigentlich ist mir sein Geld scheiß egal. Ich will es gar nicht. Aber ich bin trotzdem davon abhängig. Das lässt er mich spüren. Und mir fehlt der Mut, mich aus der Abhängigkeit frei zu machen. Ob absichtlich oder nicht sei mal dahingestellt, aber er hat mich klein gehalten. Ich traue mir nichts zu. Ich habe Angst vor einem selbstständigen Leben. Ich habe Angst davor, all seine Negativeinschätzungen zu bestätigen. Ich habe Angst davor, tatsächlich erkennen zu müssen, unfähig und zu nichts Nutze zu sein. Ich habe Angst davor zu scheitern. Ich traue mir nichts zu. Ich habe Angst vor dem Leben. Ich habe Angst vor der Zukunft.

Die Ernährungsberaterin, an die ich geraten bin, scheint wirklich ganz gut in ihrem Job zu sein. Letzte Woche war ich, ohne es zu merken, fast zwei Stunden dort. Weil das Gespräch irgendwann völlig abdriftete. Ich erzählte ihr von meinen Ängsten. Und sie sagte, dass das im Grunde sehr schade ist. Eigentlich sollte ich mich auf das Leben freuen. Nie wieder würde ich die Gelegenheit haben, mich ausprobieren zu können. Nicht so wie jetzt. Eigentlich stünden mir doch alle Wege offen. Gerade jetzt. Mit meinem Leben zu machen, was immer ich damit machen möchte. Stattdessen sitze ich zu Hause und verstecke mich vor dem Leben. Ich habe Angst, einfach unglaubliche Angst. Ich möchte die Welt anhalten, mein Leben anhalten, auf Pause drücken. Oder nein, viel lieber auf Reset. Passiv und starr vor Angst lasse ich ein um den anderen Tag vorbeiziehen. Verliere wertvolle Lebenszeit, verschwende sie.

Es ist ja nicht so, als hätte ich keine Träume und Wünsche, mein Leben, meine Zukunft betreffend. Aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert und ich schäme mich, ich schäme mich zutiefst für meine eigenen Träume, weil sie in den Augen der Welt nur als lächerlich und unrealistisch bewertet werden können. In den Augen der Welt, die ich kennen gelernt habe. Es ist mir peinlich, sie sind mir so durch und durch peinlich, dass ich sie nicht mal auszusprechen wage.

Stattdessen flimmert tagträumerisch ein Film vor meinem inneren Auge. Ich lebe in einer Traumwelt, stelle mir vor, wie ich mein Leben gerne führen würde, Tag für Tag, während ich in der Realität nur mehr und mehr versumpfe. Kreise um Kreise um Teufelskreise. Ich mag die Augen nicht öffnen, will nicht hinsehen. Denn dann packt mich die blanke Angst.

Das wird so alles nichts. Ich weiß recht genau, was nicht meine Ziele im Leben sind, wohin ich nicht will. Ich weiß auch, was ich gerne vom Leben möchte, so ich mir denn mein Leben so malen könnte, wie es mir gefällt. Und ich mache nichts. Ich schaue einfach nur zu. Noch nicht einmal das. Ich schaue weg. Die meiste Zeit. Schaue ich doch mal hin, so wie in dieser Nacht, geht es mir schlecht dabei, es hält mich wach, es beunruhigt mich, verstört mich, lässt mir keine Ruhe.

Warum nur wage ich es nicht, mein Leben endlich in meine eigenen Hände zu nehmen? Warum verweigere ich mir die Verantwortung für mich selbst? Was hält mich auf? Warum stehe ich nicht zu mir? Warum werde ich nicht aktiv? Warum versuche ich nicht, das machen zu können, was ich machen will? Vielleicht würde es schon helfen, wenn ich voll Überzeugung verkünden würde: „Dieses und jenes will ich mit meinem Leben anfangen, deswegen habe ich nun diese und jene Aktion gestartet, um mein Ziel zu erreichen.“ Selbst wenn es dann nur ein unbezahltes Praktikum wäre…Mit wirklicher Überzeugung vorgetragen, hätte das vermutlich noch mal eine ganz andere Wirkung.

So viele Gedanken, Gedanken, Gedanken. Heute Nacht schaute ich einmal hin und nicht weg. Prompt hat es mich vier Stunden Schlaf gekostet. Der Körper vermeldet nun langsam so etwas wie Müdigkeit. Würde ich mich jetzt hinlegen, könnte ich wahrscheinlich sogar den tiefen Schlaf der Erschöpfung schlafen. Aber schlafen ist nicht mehr. Nicht heute. Denn wer weiß, vielleicht ruft ja der Hausmeister nun heute an, um das Waschbecken zu reparieren. Das heißt, die Wohnung muss für den Fall der Fälle auf jeden Fall präsentabel sein. Dusche und Toilette sowie den Badfußboden hätte ich gerne zu diesem Zweck keimfrei sauber. Es gibt in Sachen Ordnung und Sauberkeit nichts, wofür ich mich mehr schäme als für ein schmutziges Badezimmer. Ja, und außerdem will ich dem Hausmeister ja auch nicht gerade im Pyjama oder in Gammelklamotten öffnen. Das heißt auch, dass ich selbst natürlich ab einer bestimmten Uhrzeit geduscht und angezogen sein muss. Ja, ja. Alles nicht so einfach, wenn man so viel Wert auf die Meinung der Außenwelt legt.

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2010-11-08 06:50