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2020-03-16 10:12
Libertärer Ikonoklasmus: Murray N. Rothbard (2017) - Tag 19

Dass sich die Situation für einen Durstigen in der Wüste, der auf einen Wasserbesitzer trifft, effektiv nicht ändern würde, ist ein populärer libertärer Denkfehler. Denn in der Begegnung mit einem anderen Menschen setzt auch eine neue Situation ein - sowohl für den Durstigen als auch für denjenigen mit Wasser. Es sei denn, der andere Mensch zählt gar nicht als anderer Mensch.

Der Durst weiß überhaupt nichts. Der Mensch - ob nun am Verdursten oder mit Wasser tut dabei nichts zur Sache - weiß hingegen sowohl vom Durst als auch vom anderen Menschen. Das macht nun den effektiven Unterschied der Situation aus, denn schließlich wird der andere Mensch zu einer Wirkursache im Szenario: Der Effekt, den die Situation erhält, ergibt sich aus dem Handeln der beteiligten Personen. Und da ist die Verweigerung des Wassers durchaus eine aktive Tat, denn sie stellt sich gegen das seinerseits wirkende Bedürfnis des anderen. Durst ist kein (willkürlicher) Zwang, sondern ein (natürliches bzw. unwillkürliches) Bedürfnis. Aber der Durst ist - wortwörtlich - überhaupt nicht das Entscheidende im Szenario. Entscheidend ist das Handeln der beteiligten Menschen. Und da ist der Knackpunkt eben nicht, dass "Nichtstun auch ein Tun sei", sondern der Knackpunkt liegt darin, dass die Verweigerung von Wasser eine aktive Handlung darstellt. Derjenige, der das Wasser besitzt, kann sich der (neuen) Situation nicht entziehen, denn er ist aktiver Teilhaber. In der Verweigerung, Wasser zu geben, trifft das (natürliche bzw. unwillkürliche) Bedürfnis des Durstigen auf die (willkürliche) Handlung des Wasserbesitzers. Die Möglichkeit, dass das (natürliche bzw. unwillkürliche) Bedürfnis befriedigt wird, besteht. Ob das Bedürfnis auch tatsächlich befriedigt wird, hängt an der (willkürlichen) Handlung des Wasserbesitzers. Verdurstet der Verdurstende, dann liegt das an der (willkürlichen) Handlung, die eine Überführung der Möglichkeit in die Wirklichkeit verhindert. Anders: Der Verdurstende wird in der Möglichkeit, das (natürliche) Bedürfnis zu befriedigen, willkürlich eingeschränkt - und genau das heißt "Zwang". Ja, das ist letztlich auch eine Frage der Moral. Schließlich lebt der Mensch als Person immer auch in einer moralischen Welt, eben weil er das Vermögen besitzt, über seine (natürlichen bzw. unwillkürlichen) Bedürfnisse hinaus zu greifen.

"Zwang" - oder "willkürlicher Zwang" - hat im libertären, anarchokapitalistischen oder minarchistischen Diskurs eine Bedeutung, die anders gelagert ist als in der Umgangssprache. "Zwang" heißt da eben nicht nur, "jemanden zu einer (anderen) Handlung zwingen", sondern es heißt (etwas in der Nähe von) "willkürlich Möglichkeiten verwehren". Nur so ergeben die (Betonung der) Souveränität über das Eigentum in der Privatrechtsgesellschaft (PRG) sowie das Prinzip der Nichtaggression (NAP: non-aggression principle) überhaupt einen Sinn.

Wenn es nur darum geht, dass der Wasserbesitzer dem Durstigen keine (andere) Handlung aufzwingt (soll heißen: kein anderes Verhalten als das Durstleiden), dann übt auch z.B. der Mauerschütze keinen Zwang gegenüber denjenigen aus, die ohnehin nicht fliehen. Oder allgemeiner: Dann schränkt das Gewaltmonopol ja die Vertragsfreiheit derjenigen nicht ein, die das Gewaltmonopol ohnehin akzeptieren. Das mag als Aussage trivial klingen, unterläuft jedoch gerade eine Privatrechtsordnung eklatant: Denn das Gewaltmonopol ist aus libertärer Sicht für alle ein Zwang - eben weil es prinzipiell Möglichkeiten verwehrt und nicht nur speziell gegenüber Abweichlern.

Murray N. Rothbard setzt sich zu dieser Sache in Kapitel 28 seiner "Ethics of Liberty" kritisch mit F.A. Hayeks Position auseinander. Und letztlich lässt sich der Unterschied zwischen Rothbard und Hayek dergestalt zusammenfassen, dass - auf das konkrete Beispiel der Extremsituation in der Wüste bezogen - Rothbard aus Sicht des Wasserbesitzers argumentiert, während Hayek beider Beziehung im Blick hat.

Daraus ergeben sich nun praktische Unterschiede - das grundlegende Verständnis dessen, was "Zwang" bedeutet, überschneidet sich bei beiden jedoch zu sehr großen Teilen. Und das lässt sich durchaus so formulieren:

"Zwang"  heißt nicht nur, jemanden "zu einer (anderen) Handlung zwingen", sondern es heißt (etwas in der Nähe von) "willkürlich Möglichkeiten verwehren".

Da Rothbard - man könnte sagen: exklusiv - aus der Sicht des Wasserbesitzers argumentiert, stellt aus seiner Perspektive jegliche Form von Pflichtethik bzw. von Moral, die einen selbst auf das Wohl eines anderen verpflichtet, eine solche willkürliche Verwehrung von Möglichkeiten dar. Das ist gerade der Punkt, an dem Rothbard Hayek ablehnt, namentlich indem er die Möglichkeiten einer Perspektive jenseits des Eigenen nicht als Möglichkeiten anerkennt. Da Rothbard a priori von einer Asymmetrie aus argumentiert (und, könnte man hinzufügen, auch auf eine Asymmetrie abzielt), lässt er die Asymmetrie einer Situation freilich nicht als Argument gelten.

Die Argumentation aus Kapitel 9 von Hayeks "Constitution of Liberty" finde ich bei Rothbard indes eher unglücklich (um nicht zu sagen: inhaltlich unvollständig) wiedergegeben: Der Ausdruck arbitrary bedeutet im Zusammenhang von Hayeks dortiger Argumentation z.B. "nicht vertragsgemäß", und das ist nicht nur widerspruchsfrei zu Hayeks sonstiger Argumentation, sondern deckt sich inhaltlich auch mit Rothbards Gedanken aus den "Ethics", insofern nämlich vertraglich festgehalten ist, welche Rechtstitel die Vertragsparteien besitzen und sich gegenseitig zuerkennen.

Ungeachtet der unterschiedlich weit gefassten Perspektiven argumentieren Rothbard und Hayek jedoch auch von zwei unterschiedlichen Seiten hin zum Sachverhalt: Während Rothbard auf die Wirkursachen hin blickt, da beschäftigt sich Hayek - man könnte sagen: scholastisch im Sinne der Schule von Salamanca - mit den Zweckursachen. Folglich heißt coercion bei Hayek, dazu gebracht zu werden, dem Willen eines anderen zu dessen Zwecken zu dienen. Interessant(er) ist dabei eine spätere Ausführung:

[The coerced] is deprived of the possibility of using his knowledge for his own aims - (Hayek, The Constitution of Liberty, Chicago 2011 , S. 200)

In Kontrast dazu benennt Rothbard coercion in Kap. 28 seiner "Ethics" als invasiven Gebrauch physischer Gewalt oder deren Androhung gegen eine Person oder deren (rechtmäßiges) Eigentum. Zugleich fügt er jedoch an, dass Zwang not really an additive quantity sei - und damit lässt sich natürlich der Begriff auch nicht von Rothbards früherer Argumentation zu Aggression trennen, sondern es verhält sich eher so, dass Aggression sich in Zwang verwirklicht und nicht der Zwang irgendwie zur Aggression hinzukäme:

[The aggressor] deprives the other man of his freedom of action and of the full exercise of his natural self-ownership - (Rothbard, The Ethics of Liberty, New York 2014, S. 45)

Diese beiden zitierten Sätze besagen inhaltlich letztlich ebendas, was ich zuvor geschrieben habe: "Zwang" heißt [...] (etwas in der Nähe von) "willkürlich Möglichkeiten verwehren".

Auf Rothbards Perspektive trifft nun - vor allem in Kontrast zu Hayeks Sichtweise - zu, dass sie "exklusiv" im Sinne von "ausschließend" genannt werden kann:

Zunächst schließt Rothbard auf theoretisch-methodischer Ebene mehrerlei aus (Kapitel 1-5 der "Ethics"): Die Beziehung zwischen dem Naturrecht und dem Griff über die Natur hinaus kappt er einseitig seitens des Naturrechts, so dass infolge auch seine Ontologie einen ausschließenden Charakter annimmt. Das Sein wird bei ihm zum Nullsummenspiel: "Sein" ist gemäß Rothbard immer schon notwendig "So-Sein" oder Identität: hier liegt eine Schnittstelle zwischen dem Libertarismus und dem Objektivismus gemäß Ayn Rand. "Ursache" ist bei Rothbard immer schon notwendig "sekundäre Ursache" - er bezieht sich explizit auf die aristotelisch-scholastische Tradition, verkürzt diese allerdings. Darauf baut er dann seine Naturrechts-Lehre. "Werte" und "Zwecke" sind bei ihm je ausschließend, ebenso wie natürlich "Subjektivität" und "Objektivität" (das geht Hand in Hand).

Wenn es um die Ordnung des Gemeinwesens geht, verhalten sich bei Rothbard auch die aristotelisch-scholastischen Kategorien "ewiges Recht" (das ihn entweder nicht interessiert oder das er schlicht mit dem Naturrecht identifiziert), "Naturrecht" und "positives Recht" exklusiv, also ausschließend zueinander.

"Der Staat" ist bei Rothbard ausschließlich der moderne Staat, und auch dort eher exklusiv die Staatsregierung (nach Jellineks Definition) - dass der Begriff bei Plato, Aristoteles oder in der vormodernen Scholastik eine anders gelagerte Bedeutung hat bzw. dass "Staat" eine eher unglückliche bzw. tendenziell anachronistische Übersetzung für politeia, res publica oder bonum commune ist, wird bei ihm kaum bis gar nicht reflektiert.

Hinzu kommt, dass Rothbard darauf aufbauend Ethik und Moral voneinander trennt (ein Schlüsselkapitel ist hier Kap. 20 der "Ethics" über Lifeboat Situations), ebenso wie er die schon erwähnten Wirkursachen gegenüber den Zweckursachen bevorzugt. Rothbard argumentiert, es käme ja nicht darauf an, eine situative Individual-Moral zu etablieren (S. 153: what should Smith do?), sondern nur darauf, sich mit der Frage nach den jeweiligen Rechten in einer konkreten Situation zu beschäftigen. Insofern er allerdings fordert, die konkreten Rechte müssten anerkannt und eingehalten werden, stellt er eben doch eine situative Individual-Moral auf.

Er trennt so letztlich auch zwischen seiner eigenen situativen Individual-Moral und der situativen Individual-Moral, die andere betrifft.

Das markiert die Exklusivität, d.h. Ausschließlichkeit von Rothbards Perspektive - und die ist bei Hayek zumindest so nicht gegeben. Hayek ist da - im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Rothbard - sehr viel "kontinentaler" in seiner politischen Philosophie. Das merkt man z.B. auf S. 225 der "Ethics", wo relative degrees [...] of coercion nur mehr quantities (also Mengenangaben) sein können. Dass graduelle Abstufung jedoch - auch und gerade in der aristotelisch-scholastischen Tradition, die Rothbard selbst aufgreift - eher unterschiedliche Intensitäten einer Qualität meinen (also die Beschaffenheit; in diesem Sinne argumentiert auch Hayek in seiner "Constitution"), scheint Rothbard nicht ganz zu berücksichtigen.

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