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2020-03-13 13:32
Kulturfaschismus und Häresie (2014) - Tag 16

alternativ: Kulturfaschismus ist Häresie

"Natur und Geschichte sind die weitesten Begriffe, unter denen der menschliche Geist die Welt der Erscheinungen begreift."

Mit dieser Feststellung leitete Johann Gustav Droysen, ein Gründervater der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, in der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Vorlesung über die Methodik seiner Disziplin ein. Natur und Geschichte - es sind dies zwei Begriffe, die bis zum heutigen Tage ein Paar bilden, wenngleich in etwas anderer Nuancierung als zu den Zeiten des preußischen Historikers: Waren beide Begriffe für Droysen dadurch verbunden, dass die Natur das Nebeneinander des Seienden, die Geschichte das Nacheinander des Gewordenen umfasse, so liegt der Fokus in der heutigen Zeit eher auf dem Gegensatz, der durch das Begriffspaar Natur - Kultur ausgedrückt wird: Die Natur umfasse all das, was nicht vom Menschen stammt, während die Kultur jene Sphäre der Erscheinungen darstellt, die der Mensch hervorgebracht hat, hervorbringt und hervorbringen wird. Auch dies findet sich bei Droysen - und mit ihm auch bei allen nachfolgenden Denkern, die eine Differenzierung zwischen Naturwissenschaften einerseits und Geistes-, Sozial- oder Kulturwissenschaften andererseits vollziehen.

Geschichte - das ist jene Sphäre, die der Mensch hervorbringt und selbst gestaltet, vom Menschen geäußerter und ent-äußerter Wille. Natur - das ist jene Sphäre, die den Menschen hervorbringt, jene Materie, aus der er geboren wird: Nicht umsonst stammt das Wort natura vom Verb nasci, natus - geboren werden. Es ist nun eine Besonderheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit, dass sich die Natur recht eigentlich dem menschlichen Blick entzieht. Der italienische Gelehrte Giambattista Vico legte an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert den Grundstein für das, was sich als moderne und empirische Wissenschaft im Entstehungsprozess befand. Seine Scienza Nuova ("Neue Wissenschaft") begründete nicht nur den Wandel mittelalterlicher Gelehrsamkeit, die sich auf Wesenserkenntnis richtete, hin zum neuzeitlichen Erkenntnisstreben, das sich in Faktensammlungen zu erschöpfen sucht, sondern gab eben diesem Wandel ein festes Fundament: verum quia factum - "es ist wahr, weil es gemacht ist". Diesem Grundsatz verdankt nicht nur die Geschichtswissenschaft ihre erkenntnistheoretische Untermauerung, sondern auch die auf Experimenten fußende Naturwissenschaft. Weil ein Experiment einen bestimmten logischen Schluss erfahrbar macht - nur weil ich einen bestimmten logischen Schluss dadurch erfahre, dass ich etwas mache -, deshalb ist dieser logische Schluss wahr. Zwischen der Natur und ihrer Erkenntnis durch den Menschen steht also die Sphäre des Geschichtlichen, des Menschen-gemachten: Vico nannte es die zivile Welt (mondo civile), Droysen nannte es den sittlichen Bereich, der im Historismus vor allem mit dem Politischen identifiziert wurde, in Anschluss an Max Weber lässt es sich das Soziale nennen, und seit den 1970er Jahren liegt die Bezeichnung "Kultur" dafür groß im Trend. Der Mensch erkennt die Natur also nur über deren zivile, sittliche, politische, soziale, kulturelle, kurz: geschichtliche Vermittlung.

Über den (Um-)Weg dieser Vermittlung jedoch lässt sich durchaus eine kategoriale Einteilung der Welt, der der Mensch entstammt, vollziehen, und das durchaus auch mit Blick auf die Beziehungsgeflechte, in die der Mensch geworfen wird: Familie, Stamm, Volk bzw. Ethnie und (biologische) Rasse bzw. Art. Entsprechend ordnet auch Droysen diese Dinge in der geschichtlichen Arbeit nach ihren Formen den sog. "natürlichen Gemeinsamkeiten" zu. Weil diese Dinge, wie gesehen, jedoch geschichtlich vermittelt sind, sind sie in dem Maße kontingent wie auch die Geschichte selbst kontingent ist: Nicht aus eigener Wesensnotwendigkeit im Dasein, sondern bedingt, begründet, geworden. Was für diese natürlichen Kategorien gilt, trifft - natürlich - in noch viel größerem Maße auf jene Kategorien zu, die genuin der geschichtlichen Welt entspringen und jenen natürlichen Kategorien entsprechen: Gesellschaft, Nation, selbst die Kultur oder Zivilisation - sie alle sind historisch, geschichtlich geworden und damit in höchstem Maße kontingent. Die Geschichte ist in diesem Sinne die Gesamtheit des Kontingenten, d.h. die Kontingenz.

Die Problematik liegt nun also auf der Hand: Der Mensch bewegt sich im Bereich des Kontingenten, er existiert in der Kontingenz, ja: er ist selbst kontingent insofern er Teil dieser Kategorien ist. Die Herausforderung besteht nun darin, im praktischen Denken und Handeln ein Maß zu finden, welches das Leben in der Kontingenz möglich macht. Dieses Maß trägt gemeinhin den Namen "Moral", und sie stellt ein Aggregat aus verschiedenen Prinzipien oder "Werten" dar. Um praktisches Denken und Handeln innerhalb der Kontingenz zu ermöglichen, kann das entsprechende Maß nicht selbst kontingent sein: Ein Maß, das sich ändert, misst nichts. Folglich ist es notwendig, das Maß für praktisches Denken und Handeln, d.h. die Moral, außerhalb der Geschichte zu verorten und zu suchen. Die Moral in der Kontingenz muss folglich nicht-kontingent sein, das Maß des Relativen muss absolut sein. In der geschichtlichen Welt sind Werte also entweder absolut - oder sie sind nicht.

Dies führt zur Frage, woher eine solche Moral genommen werden kann. Die Antwort darauf ist, historisch betrachtet, breit gefächert. Den meisten gemein ist, dass sie die Moral aus kontingenten Dingen, Kategorien oder Institutionen ableiten. Der Naturalismus (bspw. in den Spielarten des Ökologismus, Rassismus oder Familiarismus) geht dabei noch den verhältnismäßig weitesten Weg, indem er die Moral aus der Natur zu ziehen versucht. Er scheitert letztlich am zuvor genannten erkenntnistheoretischen Problem: Obwohl die Natur selbst nicht Teil der geschichtlichen Welt ist, lässt sie sich doch nur geschichtlich begreifen. Eine aus natürlichen Kategorien gezogene Moral ist damit notwendigerweise ebenfalls geschichtlich, und das heißt auch: relativ. Dezidiert politische Philosophien wie Sozialismus und Nationalismus scheitern daran, dass sie ebenfalls aus kontingenten Kategorien (Gesellschaft, Nation) absolute Werte ziehen wollen.

Dieses Problem lässt sich nun moralphilosophisch wiefolgt formulieren: Es stehen im Grunde nicht verschiedene Wert- und Moralvorstellungen gegeneinander. Sondern: Es steht die deontologische Ethik, i.e. die absolute Moral, gegen die utilitaristische Ethik, i.e. die relative Moral. Denn: Wenn eine Moral absolut ist, dann sind ihre Prinzipien unabhängig von einem geschichtlichen, also kontingenten Hintergrund. Eine solche Moral muss sich, weiters, aus dem Nicht-Kontingenten speisen. Die Kontingenz braucht einen nicht-kontingenten, in sich selbst notwendigen Ursprung, um zu sein. Es muss also, um Moral zu begründen, ein solcher Ursprung vorausgesetzt werden. Mehr als dies kann jedoch nicht vorausgesetzt werden, ohne den Pfad der Vernunft zu verlassen: Für mehr als diesen Ursprung gibt es im Denken keine Anhaltspunkte. Jedwede absolute Moral speist sich also aus dem selben nicht-kontingenten Grund der Kontingenz. Damit gibt es letztlich nur eine einzige absolute Moral.

Diese absolute Moral nun mit einer bestimmten kontingenten Sache zu identifizieren, beispielhaft sei die Kultur genannt, bedeutet nicht, dass diese kontingente Sache, in diesem Fall also die Kultur, selbst absolut wird. Es bedeutet viel mehr, jene Moral zu relativieren. Der Kulturfaschismus, insofern er die westliche, europäische oder abendländische Kultur zu ver-absolutieren sucht, relativiert also ipso facto die Moral. Er trifft aus den kontingenten Dingen eine Auswahl (griechisch hairesis), die als Maß gesetzt wird. Das heißt folglich: Der Kulturfaschismus ist relativistisch, da häretisch, und häretisch, da relativistisch.

Es gibt keinen Kampf der Kulturen, sondern es stehen sich in (je)der Kultur Deontologie und Relativismus gegenüber.

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