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Thursday, 28. March 2024
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2008-04-20 14:07
Walden Pt. III
"Es war einmal ein Künstler in der Stadt Kuru, der nach der Vollkommenheit strebte. Eines Tages kam ihm in den Sinn, einen Stab zu machen. Nachdem er sich darüber klargeworden war, daß bei einem vollkommenen Werk die Zeit nicht in Betracht komme, sprach er zu sich selbst: 'Er soll in jeder Beziehung vollkommen werden, und wenn ich sonst nichts in meinem Leben mehr tun sollte.' Sogleich ging er in den Wald, um das Holz zu suchen, fest entschlossen, daß der Stab nicht aus unpassendem Material hergestellt werden solle. Und während er suchte und einen Stock um den andern verwarf, verließen ihn all seine Freunde, denn sie wurden alt über ihrer Arbeit und starben; er aber wurde nicht einen Augenblick älter. Die Einfachheit seines Vorhabens und Entschlusses und seine hohe Frömmigkeit begabten ihn, ohne sein Wissen, mit dauernder Jugend. Da er mit der Zeit keinen Pakt machte, so blieb sie aus seinem Wege und seufzte nur aus der Ferne nach ihm, weil sie ihm nichts anhaben konnte. Ehe er einen in jeder Beziehung passenden Stock gefunden hatte, war die Stadt Kuru zur moosbewachsenen Ruine zerfallen, und er setzte sich auf einen ihrer Erdhügel, um den Stab zu schälen. Ehe er ihm die richtige Form gegeben hatte, war die Dynastie der Kandahare zu Ende gegangen; mit der Spitze des Stockes schrieb er den Namen des Letzten dieses Geschlechtes in den Sand und nahm dann wieder die Arbeit auf. Als er den Stock geglättet und poliert hatte, war Kalpa nicht mehr der Polarstern, und ehe er den Beschlag vollendet und den Griff mit kostbaren Steinen geschmückt hatte, war Brahma oft erwacht und wieder eingeschlummert. Doch was verweile ich bei diesen Dingen? Als er die letzte Hand an sein Werk legte, da breitete es sich vor den Augen des erstaunten Künstlers zur schönsten aller Schöpfungen Brahmas aus. Er hatte ein neues Weltsystem geschaffen, indem er einen Stab schuf, eine Welt des reinsten Ebenmaßes, in welcher schönere und glorreichere Städte und Dynastien die Stelle der alten, vergangenen eingenommen hatten. Und jetzt sah er an der Menge der Späne, die noch frisch zu seinen Füßen lagen, daß für ihn und seine Arbeit das frühere Verrinnen der Zeit eine Täuschung gewesen und nicht mehr Zeit vergangen war, als nötig ist, daß ein Funken aus dem Haupte Brahmas herabfalle und den Zunder eines Menschengehirnes in Brand setze. Das Material war rein, und seine Kunst war rein. Wie konnte das Ergebnis anders sein als wunderbar?"

Henry David Thoreau: Walden (1854)

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2008-04-20 14:07