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2006-06-20 18:44
Stammesrituale (4)
Am vergangenen Samstag habe ich lauter und zuviele Euros für "Deutschland-Schrott" ausgegeben. Ich nenne das "Schrott", weil das solche China-Importe sind und viel zu teuer hier verkauft werden. Die Kinder fahren da aber voll drauf ab (Schals, Fahnen, Tatoos...) und ich wollte mich dem auch nicht entgegen stellen. Und eigentlich mag ich es auch. Nun hat also unser Auto auch

(wie schon seit Beginn der WM unser Balkon, hier aber gemischt-patriotrisch und der Hinterhof ist sowieso sehr bunt beflaggt: neben Deutschland auch Brasilien, Schweden, Italien, jeder hat so seine Vorlieben, sehr hübsch)

so eine schöne "Staatsbeflaggung", und da es zwei Söhne sind, natürlich gleich an beiden Seiten.

Zu dieser Beflaggung habe ich kürzlich ein paar Artikel aufgeschnappt. In dem einen ging es darum, dieses "Phänomen" soziohistorisch einzusortieren und klarzustellen, daß nicht ein neuer Nationalismus droht, daß es also "rundweg positiv" wäre (danke für den Hinweis, ich bin beruhigt, das war wirklich meine größte Sorge). In dem anderen ging es darum, daß dies alles auf Verdrängungsmechanismen beruhen würde, das eher nur als ein "Strohfeuer" anzusehen sei und eine temporäre Flucht aus der alltäglichen Problematik.

Ich habe dafür einen ganz anderen Vorschlag, womit diese soziohistorointellektuellen Wesensverweigerer aber wohl nichts anfangen können. Es handelt sich dabei ganz einfach um Stammesrituale. Etwas Uraltes im Menschen, etwas über Jahrhunderte und Jahrtausende tradiertes, etwas Echtes macht sich Luft: die Zugehörigkeit zu einer Sippe, zu einem Stamm. Deutschland ist für ein paar wenige Wochen indianisch, schamanisch und urvölkisch.

Allein die Streifenbemalung im Gesicht, nichts anderes als eine Kriegsbemalung, wie sie von den Indianer und Urvölkern bekannt ist. Und ich meine das gar nicht im negativen Sinne. Für mich kommt da einfach ein Stück Volksseele zum Ausdruck, die für eine kurze Zeit mal Oberwasser hat.

Freilich geht die Knechtschaft danach weiter und das "wirkliche Leben" hält wieder Einzug. Dieses "wirkliche" Leben, in dem alles nach der "Vernunft" und der "Ratio" ausgerichtet ist (zum Wohle ein paar Weniger allerdings und auf Kosten der Menge), das aber ist der eigentliche Irrtum.

Dieses Vorstellungsgespräch, indem ich das so freiheraus gesagt habe, daß ich Probleme damit habe, wenn mein Vorgesetzter sich für mich als Mensch nicht interessiert: das ist ja kamikazehaft, fällt mir immer wieder ein. Als sei der Mensch wichtiger als seine Leistung.

Aber ich bleibe dabei: erst der Mensch, dann die Leistung oder wenigstens beides gleichberechtigt. Denn Leistungen, die nicht von ganzen Menschen sondern von fremdbestimmten und auf ihre Verstandesfunktion reduzierte Geschöpfe im Kampf gegen sich selbst erbracht werden, waren der Menschheit noch nie zuträglich.

-

Seit heute habe ich sogar Beflaggung an meinem Fahrrad. Das ist wirklich sehr komisch und macht mir Spaß.

Michael

Kommentare

17:17 29.06.2006
achja, der schrott :
habe ich irgendwo aufgeschnappt,
dass die fähnchen wohl knapp werden könnten:
herstellung in china kostet etwa 17 cent, verkaufspreis 5 €.

jetzt weitere herzustellen,
und diese dann per schiff nach deutschland zu verfrachten,
haut zeitlich nicht mehr hin.

möglichkeiten also:
per flugzeug einfliegen - oder gleich hier herstellen.
damit liesse sich wohl durchaus gewinn machen.
allerdings weniger als die bisherigen 4,83 pro stück.
deshalb lässt man es lieber.
- die geheimnisse der wirtschaft...
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17:11 29.06.2006
hallo - ich finde beide gedanken richtig...
die stammesrituale - was sicherlich zutrifft, wie auch den verweis auf die
gruppengrösse ( - sind aber wohl trotzdem noch ~82 millionen ).
ich hätte die frage nach patriotismus auch immer mit meinem engeren umfeld beantwortet - warum sollte mir aachen näher sein als
scheveningen - z.b....-
aber andererseits:
innerhalb der 150-leute-kerngruppe werden beziehungen aufgebaut und können -in grenzen- erhalten werden.
aber darum geht es hier ja nicht. es geht zunächst mal nur darum, für
dein einzelnen sich einer gruppe zugehörig zu fühlen - im
zweifelsfalle der der fussballmannschaft, die ja übersichtlich bleibt
und bekannt ist. für alle weiteren: man macht sich als zur gruppe
zugehörig kenntlich, "fan" , also nur ggf. zur interaktion bereit -
völlig egal zunächst, ob diese überhaupt stattfinden wird.
könnte also heissen: die motivation eines jeden könnte eher sein:
wenn ich unter den entsprechend gekennzeichneten 150 finde,
bin ich bereit, mit diesen einen stamm zu gründen...
und ausserdem gibt es noch das phänomen der gruppenresonanz :
von ein paar tausend ist man eben leichter mitzureissen als von hundert.
( dies im guten wie im schlechten.... )
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17:13 21.06.2006
Hallo Ralf!

Als ich in meinem Entusiasmus das mit dem 'schamanischen Deutschland' geschrieben hatte und das dann las, kam es mir auch (heillos?) übertrieben vor, aber löschen wollte ich es auch nicht. Warum nicht zumindest so etwas mal andenken?

Wenn man sich das ganze 'Dahinter' mal anschaut, die FIFA, diese Werbemaschinerie, das ist leider total krank. In dem Sinne ist es schwieirg, daraus etwas 'Echtes' machen zu wollen. Du sagst es besser: der Wunsch ist echt.

Grüße,
Michael
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unbekannt
16:17 21.06.2006
Netter Gedanke, Michael!
Die scharz-rot-goldene Party als Ausdruck des archaischen Wunsches nach dem Gemeinschaftserlebnis eines Stamms.
Aber ist das etwas Echtes? Der Wunsch sicherlich. Aber der Gegensatnd, auf den er sich richtet? Gibt es so etwas wie eine Gemeinschaft der Deutschen?

Ich habe mal aufgeschnappt, die maximale Gruppengröße, die so etwas wie Gemeinschaft vermitteln kann, sei 150. So weit reicht unsere Kapazität, bis zu der Zahl kennt noch jeder jeden, der Einzelne behält den Überblick über die Gesamtheit und kann zu jedem eine etwas mehr als nur oberflächliche persönliche Bindung aufbauen.

Wenn früher ein Stamm deutlich mehr als 150 MItglieder hatte, teilte er sich. Auch heute kann man ähnliches bei Firmen beobachten. Haben sie weniger als 150 Mitarbeiter, so läuft fast alles über persönliche Kontakte. Wächst die Firma darüber hinaus, muss verstärkt auf formale und abstrakte Organisationsformen zurückgegriffen werden.

Trotz Bevölkerungsrückgang und Abtreibungsepidemie gibt es immer noch so 70-75 Millionen Deutsche. Das sind einfach zu viele, als dass mich mit denen ein echtes(!) Gemeinschaftsgefühl verbinden könnte.

Der Wunsch nach Einbindung und Aufgehobensein - der ist echt.
Aber Deutschland wird schamanisch? Halte ich doch für etwas zu hoch gegriffen.

Trotzdem viel Spass mit der Beflaggung!
Ist ein nettes Spiel. Und es gibt hässlichere Flaggen als die deutsche.

Gruß
Ralf,
gestern um 15 Feierabend gemacht, um im Biergarten Ecuador-Deutschland zu sehen,
blieb aber bei der Nationalhymne sitzen


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2006-06-20 18:44