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2008-07-29 16:03
soviel zum Thema Opferhaltung
nicht von mir, aber toller Text zum Thema Opfersein

Das perfekte Opfer

Es gibt Untersuchungen, dass ein ganz bestimmter Frauentyp häufiger Opfer von Handtaschendieben und Vergewaltigern wird als andere. Diese Frauen senden unbewusst Signale. Hier ist die Geschichte eines professionellen Opfers, das freimütig seine Strategien aufdeckt.

Mein Job ist eine Ganztagsbeschäftigung. Selbst in meinen Träumen arbeite ich daran, das perfekte Opfer zu werden. Ich nehme nie Urlaub und mache nicht blau. Am Wochenende leide ich besonders gern und viel.

Keiner liebt mich, ist mein Motto und das lasse ich mir Tag für Tag bestätigen. Ich kann gar nichts, ich bin schuld, meine Kindheit ist ein Drama in fünfzehn Akten, mit diesen Sätzen heize ich mich an, wenn die Motivation ins Bodenlose fällt.

Die ersten Lehrjahre liegen weit zurück. Der Vater schlug mich, die Mutter gab mir keinen Namen. Damals dachte ich, niemand könne so gut jammern wie sie. Sie war mein Meister. Ich habe sie gut beobachtet und ihre Methoden so verfeinert, dass ich davon leben kann.

Ich kann mich bewerben, wo ich will. Meine Fingernägel sind sauber, meine Zeugnisse gut. Den festen Willen zur Leistung erkläre ich mit energisch geballten Fäusten. Meine Gehaltsvorstellung bewegt sich in einem bescheidenen Rahmen. Der Personalchef sitzt vor mir und versteht sich selber nicht. Der Eindruck ist gut und doch ... Er sagt mir ab. Sein Ton ist bedauernd. Ist es mein schmerzlich zum Lächeln verzogenes Gesicht? Er weiß es nicht, aber ich weiß es. Ich will keinen Job. Ich bin ein freiberufliches Opfer. Für mich ist es besser, wenn ich Pech habe. Das ist mein größtes Kapital.

Die Schultern hochgezogen, die Augen niedergeschlagen, trete ich zögernd auf die Straße. An diesem Tag, mitten auf dem Marktplatz, treibt sich ein Bösewicht herum. Ich bin es, der er das Portemonnaie aus der Tasche reißt. Das passiert nicht zum ersten Mal. Es sind diese kleinen Triumphe, die mir beweisen, dass ich meinen Job im Griff habe.

Den Freunden erzähle ich am Abend - mit weißem Gesicht, aber ohne zu heulen - von diesen Missgeschicken. Direkte Klage? Etwas für Anfänger. "Ich bin schuld", sage ich, damit mir niemand einen Vorwurf machen kann, "ich war zu früh da, zu aufgeregt, ich wollte den Job zu sehr."

Als ich vom Portemonnaie erzähle, ist das Mitleid groß. Tränen muss ich keine fließen lassen, obwohl ich das sehr schön kann. Es ist nicht nötig, zu betonen, dass ich kein Geld habe, um essen zu gehen. "Nein, ich bin nicht hungrig," sage ich bescheiden und werde sofort eingeladen. Mitleid ist mein Lohn, mein vierzehntes Monatsgehalt.

Der Beruf des Opfers schließt bestimmte Beziehungen ein und andere aus. Früher bin ich einigen Fehleinschätzungen unterlegen und investierte in falsche Freunde, wie in eine ältere Dame, die mir zunächst warm und hilfsbereit erschien. Ihr Haus stand voller Wertgegenstände und sie hatte ein offenes Ohr für jede Widrigkeit meines Lebens. Leider saß sie da wie ein Stein und rührte keine Hand, um mir zu helfen. Ich kaufte für sie ein und erledigte ihre Post. Als ich auch noch ihren Hund ausführte, bedankte sie sich zwar, schenkte mir aber nichts. Ich fühlte mich gezwungen, sie zu bestehlen, aber es ergab sich keine günstige Gelegenheit, denn sie ließ mich nicht aus den Augen. Tränenreich verabschiedete ich mich. Ich müsse hart arbeiten, es bliebe keine Zeit mehr, sie zu besuchen. Wahrscheinlich hat sie das nicht einmal bedauert.

Heute nehme ich solche Leute gar nicht mehr wahr.

Mit den Jahren habe ich eine intuitive Ahnung gewonnen, mit wem sich ins Geschäft kommen lässt und mit wem nicht. Ich bin sehr gut im schnellen Herstellen einer intimen Beziehung. Zuerst schaue ich mir die Schuhe des Gegenübers an. Auch Taschen, Kugelschreiber, Feuerzeuge geben Hinweise auf Stand und Status. Lohnt sich ein Kontakt, enthülle ich ein Dilemma. Ich habe einen ganzen Katalog, aus dem ich das Passende auswählen kann. Aufrecht sitze ich da und stürze plötzlich hervor: "Ich glaube, ich bin ein Versager." Er sagt zum Beispiel: "Das bist Du nicht!" Dann weiß ich, dass ich den Richtigen erwischt habe. Darauf antworte ich: "Ja, aber ..." und führe ihn in den Irrgarten meines Inneren. Schon läuft er zur Höchstform auf und schöpft aus seiner ganzen Lebensweisheit, um mir einen guten Rat nach dem anderen zu erteilen. (Ich habe schon eine große Sammlung davon.) Ich finde immer einen Grund, warum ich ihm nicht folgen kann und der ist überzeugend. Wäre er es nicht, würde ich schnell meine Reputation verlieren. Nach und nach ziehe ich das Gegenüber immer tiefer in mein Innenleben, bis es sich nicht mehr auskennt. Ich lasse nicht zu, dass es einen Schritt zurückmacht, um Übersicht zu gewinnen, sondern verabrede mich gleich morgen wieder. Zwischendurch telefonieren wir. Es kommt immer der Tag, da sie sich ausgelaugt fühlen und erschöpft. Bevor sie darauf kommen können, dass ich der Grund bin, breche ich die Beziehung ab und gebe mir die Schuld.

Einmal lebte ich mit einem Mann zusammen, der stand mir bei, schützte und verteidigte mich, zahlte und hörte zu. Er dachte, damit mein Leiden zu mindern. Aber ich will gar nicht, dass es mir besser geht. Leiden ist ein schönes Gefühl. Es ist wie krank sein: man geht ins Bett und hat es warm und muss sich nicht mehr rühren. Der Mann brachte heißen Früchtetee. Nach zwei Jahren kündigte er unsere Geschäftsbeziehung fristlos und ohne Vorwarnung. Um ihn zu halten, leitete ich eine drastische Maßnahme ein: Ich beging einen Selbstmordversuch. Nichts Gefährliches, nur ein paar Tabletten. „Erpressung!“ schrie meine Geschäftsbeziehung und beinahe wäre ich aufgeflogen. Ich stand auf der Straße, konnte so schnell keine anderes Standbein aufbauen und mich nur dadurch retten, dass ich zwei Jahre unbezahlten Urlaub nahm und eine kaufmännische Ausbildung absolvierte. Ich schloss sie mit „eins“ ab. Das Zeugnis zeige ich niemandem, sonst kommt man mir darauf, dass ich mir selbst helfen kann und wenn sich diese Erkenntnis erst mal durchsetzt, bin ich meinen Job los und kann auswandern.

Nach dieser Erfahrung lehne ich es vorerst ab, mit jemandem zusammenzuwohnen. Außerdem hätte ich einen Grund weniger zur Klagen. Ich will auch nicht, dass mir einer in die Karten guckt, zusieht, wie ich meine Kontakte pflege, mitbekommt, wie viel Kapital ich schlage. Das Finanzamt weiß es auch nicht, denn für die Zuwendungen, die ich erhalte, stelle ich keine Rechnungen und ziehe keine Mehrwertsteuer ein.

Heute bin ich auf der Höhe meiner Karriere und ständig bestrebt, zu expandieren. Ich verfüge über ein weitverzweigtes Netz von Bekannten und Freunden. Am Wochenende rufe ich sie nach und nach alle an, berichte, wie man mich betrogen hat, dass ich einsam und alleine bin, hässlich, dumm und schüchtern. Man lädt mich zum Essen ein, in den Urlaub, man fährt mich nach Hause, wenn ich nicht laufen kann. Ich habe ein feines Gespür entwickelt, wie weit ich gehen kann, nehme nie zuviel, klammere nicht, weiche lieber aus und lasse die anderen hinter mir herlaufen.

Für den Fall einer Flaute habe ich mir einen Adressenpool von Anlaufstellen in Krisensituationen angelegt. Mal reicht ein Besuch in einer Beratungsstelle für Süchtige - denen erzähle ich tränenüberströmt von meiner Abhängigkeit von Männern, oder ich lasse mich für fünf Tage ins Krankenhaus einweisen, Krisenintervention, zum Auftanken reicht das, die Betreuung geht rund um die Uhr. Ich muss mich weder um Bettwäsche noch um Essen kümmern, habe zweimal am Tag ein einstündiges Gespräch mit einem Menschen, der intensiv auf mich eingeht.

Wie jeder Berufstätige muss ich mir überlegen, wie ich mein Alter sichere, denn ich nutze mich ab. Noch hilft mir meine Schönheit sehr dabei, Schutzinstinkte hervorzurufen, aber je älter ich bin, desto klüger werden die anderen. Bald werde ich mir immer häufiger professionelle Hilfe suchen müssen, die ist einfach nicht so liebevoll und so ausdauernd wie die private.

Bevor der Lippenstift in den Mundfalten verläuft, muss ein Mann her. Am besten einer, der die Markenzeichen seiner Kleidung außen trägt. Ich muss ihn so blenden, dass er denkt, er habe das große Los gezogen und das wird meine Meisterleistung sein. Seit einem Jahr bereite ich alles vor. Ich habe mir Designerkleidung aus dem Secondhandladen gekauft, mein Englisch so weit verbessert, dass ich einigermaßen fließend reden kann, ich habe dafür gesorgt, dass manche prominente Telefonnummer in meinem Adressbuch steht und mache Sport - widerwillig, aber man muss auch investieren können. Ich habe lauter kluge Zitate auf kleine Kärtchen geschrieben und wiederhole sie, bis ich sie ohne Stocken hervorbringe. Die sind so gut, dass er lange nicht merken wird, dass meinen Worten keine Taten folgen. Die Geschichte über meine schlimme Kindheit kann ich auswendig. Solange der Heiratsantrag nicht erfolgt ist, wird der Mann den Eindruck haben, ich kämpfte wie ein Löwe um eine bessere Zukunft und täte es ohne Selbstmitleid. Das ist das Einzige, womit er recht hat. Mitleid brauche ich von anderen. Für meine beruflichen Belange benutze ich meinen kühlen Verstand.

Es muss ein Mann sein, der zwar Geld hat, aber keine Selbstachtung. Ich werde ihm das Gefühl geben, dass ich ihn brauche, ich werde ihn um Rat fragen, wann und wo ich kann, ich werde mich ducken, wenn er laut wird und ihn loben, wenn er mit mir geschlafen hat. Das kräftigt sein Vertrauen in seine Potenz, denn er wird etwa fünfzehn Jahre älter sein als ich. Irgendwann fange ich an, ihn so zu provozieren, dass er böse auf mich wird. Er wird mich nicht enttäuschen. Ich werde ihm die zweite Backe hinhalten. Dafür wird er mich lieben. Ich werde mit einem blauen Auge herumlaufen. Das wird ihm leid tun. Ich werde mich in ein Hotel zurückziehen und eine Woche später mit zitternder Unterlippe vor seiner Tür stehen, ihm verzeihen, versichern, dass ich ohne ihn nicht leben kann, ihn darum bitten, es noch einmal mit mir zu versuchen ... das ganze Programm eben. Er wird mich wieder aufnehmen und sich stärker fühlen als zuvor.

Wenn ich sechzig bin, gehe ich in Rente und lebe von meinem Erwirtschafteten. Kann sein, dass ich mich dann scheiden lasse, um den Unterhalt kommt er nicht herum. Dann mache ich all das, wozu ich in meinem ausgefüllten Berufsleben nicht gekommen bin: Ich werde wütend und aktiv.

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Kommentare

18:01 29.07.2008
WOW! sehr gut geschrieben...
Soll der Kommentar wirklich gelöscht werden?
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2008-07-29 16:03