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Friday, 29. March 2024
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2004-01-20 15:14
Rave
Bass, Laserlights, Rhythmus. Ich bewegte meinen Körper zur Technomusik, vergaß die Welt um mich herum, war eins mit dieser Masse aus Menschen, die genauso wie ich dem Alltag entfliehen wollten und im Feiern ihren Ausweg fanden. Natürlich war mir bewusst, dass es lediglich eine Flucht vor der Realität war, aber hier konnte ich den Stress der vergangenen Woche hinter mir lassen und abtauchen in eine Welt aus Bässen, zuckenden Lichtblitzen und tanzenden Bewegungen. Ich glaubte gar, die Musik zu spüren, wie sie durch meine Ohr in meinen Körper kroch und sich dann langsam fließend in allen Gliedern ausbreitete. Zuerst brachten die Melodien mich dazu, meinen Geist ganz der Fantasie hinzugeben, dann fingen die Beats an, mein Herz schneller schlagen zu lassen und schließlich den Takt der Musik anzunehmen, und dann kroch der Rhythmus durch meinen Körper, in meine Arme und Beine und übernahm die völlige Kontrolle über meine Bewegungen.

Hearing the music is like seeing the colours of trance and feeling the power of acid.

Beim Tanzen schloss ich die Augen und dachte nicht mehr an meinen Nebenjob nach der Schule, wo ich an der Kasse des Supermarktes Tag für Tag ein freundliches Lächeln aufsetzen und so tun musste als sei die ganze Welt voll Sonnenschein, auch wenn es in ihr meist ganz anders aussah. Ich dachte nicht mehr an mein Konto, das jetzt zum Monatsende schon wieder einmal hoffnungslos überzogen war, ich fragte mich nicht mehr, warum meine Eltern mich und meine drei jährige Schwester alleine zurückliessen, ich dachte nicht mehr an die Sorgen, wie ich mit meiner kleinen Schwester über die Runden kommen sollte, und ich dachte nicht mehr an die quälenden Gedanken, an die Zukunft, die wie eine undurchsichtige Nebelwand vor mir lag und mir Angst machte.
Im Moment fühlte ich nur noch die Musik und dieses einzigartige Gefühl, das aufkam, wenn der DJ gut war und die Leute echte Stimmung und die Illusion einer Einheit verbreiteten.

Ich wusste nicht wie lange ich getanzt hatte, jegliches Zeitgefühl hatte ich von mir abfallen lassen, doch irgendwann forderte mein Körper eine wohlverdiente Pause. Also schleppte ich meine schmerzenden Füße zur nächsten Bar und bestellte mir ein kühles Smirnoff.
Drogen kamen für mich nie in Frage, auch wenn ich manchmal merkte, dass ich nicht mehr die Kondition hatte, die meine Freunde noch hervorbrachten, aber immerhin hatte ich Verantwortung zu tragen, und die würde ich um keinen Preis der Welt aufs Spiel setzen.
Zu viele Freunde hatte ich gesehen, die sich durch Pillen oder Pappen kaputtgemacht hatten und sich und ihr Leben schließlich aufgegeben haben. Außerdem ging es auch so, und meine Droge war eben die Musik. Als ich jetzt die kühle Flüssigkeit meine trockene Kehle herunterrinnen ließ, sah ich mich ein wenig unter den Anwesenden um.
Alle schienen guter Laune zu sein und den Samstagabend genauso zu genießen wie ich selbst, viele waren jünger als ich, noch Kinder, und erschreckenderweise hatten etliche von den zwölf bis 16 Jährigen unnatürlich geweitete Pupillen, was wohl eindeutig zu den Schattenseiten der Rave-Szene gehörte. Doch ich ließ mir meine Laune dadurch nicht verderben, sah mich stattdessen die Herren, soweit man bei den Jungs hier von Herren sprechen konnte, an. Die meisten hatten eine Freundin oder flüchtige Eroberung im Arm, die anderen waren entweder zu jung, zu hässlich, zu überdreht, zu betrunken und dazu waren die meisten doch sowieso hetero. Aber ich hatte ja sowieso mit der Männerwelt abgeschlossen, rief ich mir in Erinnerung, alles Idioten, alle plump und ohne Gefühle, alle gleich. Mein erster fester Freund, das war jetzt über zwei Jahre her, war fünfzehn Jahre älter gewesen als ich, ich hatte ihn auf der Party einer Freundin aufgegabelt, ich war mit zu ihm nach Hause gefahren, er hatte mich entjungfert, und am nächsten Tag wollte er nichts mehr von mir wissen. Danach folgte eine kurze Affäre mit einem Typen, der mich zwar wirklich geliebt hatte, doch außer mir noch zwei andere, und als ich dahintergekommen war, brach eine Welt für mich zusammen, und ich verlor zum ersten Mal das Vertrauen in meine Menschenkenntnis.

Auf einem Rave hatte ich dann einen Typen kennen gelernt, der mich zwar geliebt hatte und mit dem ich einige schöne Monate verbracht hatte, doch irgendwann fing er an, Pillen zu schlucken, jeden Abend breit zu sein, und das so lange bis ich es einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Meine letzte Beziehung hatte fast ein halbes Jahr gedauert, die ich immer noch zu den schönsten meines Lebens zähle, doch als ich ihm schließlich eröffnete, dass ich meine kleine Schwester alleine erziehe und sozusagen ihr Vormund war und dass ich erhoffte dass er, als mein Freund sich auch um sie kümmere, hatte er wortlos die Wohnung verlassen, und ich hatte ihn nie wieder gesehen. Inzwischen hatte ich es gänzlich aufgegeben, nach meinem Traummann Ausschau zu halten, denn den gab es genauso wenig wie eine Garantie für ewig gute Laune, das war mir inzwischen klar.
Bevor ich jetzt allerdings meine Laune einbüßen wollte, leerte ich schnell mein Glas und kämpfte mich dann wieder zur Tanzfläche durch, von wo aus jetzt richtig schöner Schranz zu hören war.
Tanzen war manchmal das einzige, was mich am Leben erhielt, glaubte ich, und meine kleine Schwester natürlich, denn egal, wie beschissen das Leben mir auch manchmal vorkam, meine Kleine war das alles auf jeden Fall wert.!

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Kommentare


unbekannt
16:21 20.01.2004
WOW Respekt! Ich nehme an, das basiert auf Tatsachen (?!) Doppelter Respekt!!!

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2004-01-20 15:14