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2008-04-18 09:28
mein zielloses Leben
Meinen letzten nächtlichen Traum habe ich im Halbbewusstsein einfach weitergeträumt und ihn absichtlich eine gewünschte Richtung gegeben. Wenn man noch nicht so richtig wach ist, hat man ja tatsächlich die Möglichkeit Regisseur, Autor und Hauptdarsteller seines Traums zu sein, um willentlich Aktion und Ausgang zu beeinflussen. Das macht Spaß. So fängt der Tag nicht schlecht an, wenn denn nur der Traum nicht zu unständig, nicht zu aufwühlend, nicht zu deprimierend war.

Nach meiner allmorgendlichen Prozedur (Espressomaschine anstellen, Tasse unterstellen, Knopf drücken und dann das schwarze Brühwasser langsam schlürfen) denke ich über mein merkwürdiges Leben nach. Das Geld geht langsam zur Neige und ich hatte gestern bei der Bank den letzten Fonds verkauft. Ein gutes Gefühl. Je weniger Besitz ich habe, desto weniger belastet fühle ich mich. Ja, Besitz belastet. Exemplarisch bekomme ich das immer am Berliner Hauptbahnhof vorgeführt. Dort zieht es mich regelmäßig mit meinem Fahrrad hin. Und was sehe ich dann dort? Lauter Menschen, die ein Ziel haben. Und ich bin zutiefst beeindruckt: alles Menschen, die im Gegensatz zu mir wissen, wohin sie wollen.

Aber die Reisenden tragen schwer an ihrem Besitz, den sie mit sich führen. Ständig wird ihre Aufmerksamkeit gefordert, damit ihr Koffer nicht gestohlen wird. Und ich lerne beim Herumstolzieren und beobahten der Reisenden auf den Bahnhof vor allem eines: Besitz belastet. Ständig diese Besorgnis, sie könnten ihre Habseligkeiten verlieren, ständig die Angst, sie könnten nicht rechtzeitig am Zielort eintreffen, ständig sind sie mit der Unfreiheit konfrontiert, Handlungen zu vollführen, die sie nur aus Pflichtgefühl tun (auf dem Weg zum Arbeitgeber, auf dem Weg zur Heimreise zum Pflichtbesuch zu den Eltern). Alle haben also tatsächlich ein Ziel, das ist beneidenswert und gibt dem Leben Struktur, aber die meisten haben diese zielstrebige Leben getauscht gegen die Freiheit seinem Leben nach seinen Bedürfnissen zu leben. Sie leben für fremde Ziele, engagieren sich für fremde Gedanken oder vermehren im besten Fall das Glücksgefühl von Menschen, die es gewohnt sind, dass man sich um ihre Anweisungen ordnungsgemäß kümmert.

Da verbringe ich also mal wieder mein Leben am Hauptbahnhof in Berlin. Er wurde vor wenigen Jahren in eine Brachlandschaft gebaut, ein beeindruckendes Bauwerk, das bei Orkanstärken gerne mal einen Stahlbalken abstößt (Scherz!), und wo lange Jahre Grenzstreifen, Mauer und der Beginn der verschlafenen DDR-Welt begann. Das macht sich wohl kaum noch einer bewusst, der hier mit Ziel im Gepäck in einen Zug steigt. Beim Bahnhofsschlendern fällt mir heute das übergeschminkte Gesicht eines jungen Mädchens auf, das hinter dem Tresen eines Backshop arbeitet. Die nicht mehr vorhandenen Augenbrauen hat sie sich mit einem Kajalstift dünn angemalt und genauso unnatürlich, künstlich aufgesetzt, kommt ihre Fröhlichkeit zu den anonymen Kunden daher. Ich empfinde sie als unangenehm. Eine junge Frau, die sich offensichtlich nicht wohl fühlt in ihrer Haut.

Ging es mir in jungen Jahren eigentlich anders? Die vielen Erwartungen, die fremde Menschen auf einen projezieren, gingen ja noch, aber die erdrückenen eigenen Erwartungen an das Leben, das scheinbare Grundrecht fröhlich zu sein, befriedigt zu werden, mit dem was da mit sich selbst anstellt, also das wird einen doch fast zwangsweise deprimieren müssen. Das schlimmste war für mich als Jugendlicher dieses nicht im Reinen sein mit dem eigenen Körper. Dieses so schwer akzeptieren können, dass die Dinge so sind wie sie sind. Auch man selbst. Wenn ich dieses jungen Mädchen so beobachte, bin ich fast versucht ihr zu sagen: Mensch, schau dich in den Spiegel, schaue dich ganz genau an und dann sage zu dir - ja, das bin ich. Ja, ich akzeptiere dich. Das bist du.

Selbsterkenntnissse sind wichtig im Leben. Aber wie das Wort schon sagt, diese Erkenntnisse hat jeder irgendwann selbst im Leben. Ich kann einem anderen da nicht helfen. Sie muss selbst drauf kommen. Auch die junge Verkäuferin im Backshop, die dort die Bilanz von einem Großkonzern aufpeppen hilft und selbst reichlich wenig Gewinn davon hat. Vielleicht nur die Erkenntnis: die überwiegenden Handlungen im Leben sind sinnlos, doch noch unbedeutend.

Ich löse meinen Blick von der angemalten Bahnhofsschönheit und trotte wieder richtig Ausgang. Wieviel Kameras mich hier wohl bei meiner fast täglichen Beobachtung der Zielbesitzer mit Bahnfahrkarte verfolgt haben? Ich steige auf mein Fahrrad und fahre den romantischen Weg an der Spree entlang, vorbei am Bundesinnenministerium, vorbei an Schlamm-Pfützen, aufgrund des gestrigen Regens und bin mir meiner Freiheit im Leben sehr bewusst. Nur leider wusste ich auch heute nichts damit anzufangen.

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Kommentare

15:20 18.04.2008
ich finde du bist ein bisselchen zu streng mit den armen leuten, die am bahnhof in einen zug steigen^^ nicht alle sind fremdgesteuerte marionetten, die lediglich dafür da sind zu funktionieren (meine bescheidene meinung)
ich denke, richtig "frei" ist man nur, wenn man trotz der "pflichten", die man für andere tut (wie etwa diese bäckereiverkäuferin), sich selbst nicht vergisst und sei es nur, dass man ein paar momente pro tag für sich einplant. ansonsten schnürt die gesellschaft diese freiheit ganz schnell wieder ein..zumindest körperlich...indem einem dann irgendwann die finanziellen mittel ausgehen dürften oder ähnlich blödes^^

in jedem fall aber: sei herzlich willkommen hier^^
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10:13 18.04.2008
hm naja. einerseits weiss ich schon was du meinst und stimme dir auch zu, andererseits muss der mensch ja auch irgendwie klarkommen in dieser gesellschaft und ist nun mal den freuden des lebens nicht abgeneigt. das muss man aber erstmal bezahlen können, genau wie du den besitz deiner kaffeemaschine irgendwie finanzieren musst. wenns blöd gelaufen ist muss man dann eine weile (weisst du ja nicht) auch jobs machen wie die bäckereiverkäuferin...vielleicht spart die ja drauf ihren traum zu verwirklichen. weiss man`s?
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2008-04-18 09:28