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2006-02-06 10:01
Gedanken zur Zeitgeschichte

Diesen Text habe ich in der letzten Woche geschrieben, um für mich ein bißchen wenigstens den Dschungel zu lichten. Ich habe ihn erst noch zurückgehalten, wollte das sacken lassen. Aber im Grunde gibt es jetzt nichts mehr, was ich dem hinzufügen oder wegnehmen wollte.

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Mir scheint, als herrschte derzeit eine ähnliche Stimmung, wie auch wohl zu Beginn des 20.Jahrhunderts bzw. in der Zeit zwischen den beiden großen Kriegen. Tatsächlich fühlt es sich wie eine Art "Vorkriegsstimmung" an. Eine merkwürdige Spannung liegt auf den Menschen, von der nicht klar ist, auf welche friedliche Art und Weise es zu einer Ent-Spannung kommen könnte. Dennoch wird es früher oder später zu so einer Entspannung kommen müssen.

Es ist eine ähnlich zwiespältige Zeit wie die sogenannten "Goldenen 20er" des letzten Jahrhunderts. Wenn man sich mal die Hintergründe näher vor Augen führt: die kriselnde bis untergehende Weimarer Republik, anhaltende Verpflichtungen zu Reparationsleistungen, diverse Putschversuche, Ruhrgebiet-Besetzung der Franzosen, Hyperinflation. Schließlich nur kurze Zeit später der Beginn der Weltwirtschaftskrise mit allen seinen Folgen.

Schwer vorstellbar, wie es da zu "goldenen Jahren" gekommen sein soll. Aber wie man heute weiß, bezieht sich dieses "Goldene" dann doch nur auf vereinzelte Orte, vereinzelte Gesellschaftsschichten. Alles in allem glaube ich nicht, daß diese Zeit sonderlich goldig war. Genausowenig, wie es die 1990er Jahre waren mit ihren Schein-Wirtschaftsaufschwüngen, für die nun die Rechnungen eingefordert werden.

Ähnliches gilt auch für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg. "Die Welt von gestern" von Stefan Zweig ist eine gute Beschreibung dieser Jahre. Ich habe es noch nicht ganz gelesen, aber zumindest aus den Anfängen des Buches wird schnell klar, daß die Schönheit, der Frieden und die trügerische Idylle in diesen Jahren schwer bezahlt wurde mit Gängelung, falschen Moralvorstellungen und einem abartigen Schulsystem, das aus jungen Menschen möglichst rasch verkrampfte Erwachsene machen sollte.

Wenn man sich manche vergangene Dinge so vor Augen hält, dann relativiert sich vieles, was einen vielleicht dazu bringen kann darüber zu klagen, wie "schlecht" es heute doch sei. Ungerechte Einkommensverteilung? Ein uralter Hut. Altersabsicherung? Wohlstandserscheinung! Arbeitslosigkeit? Aber ich muß schon sehr bitten! Was ist daran ungewöhnlich? Und der Kampf um Ressourcen ist sowieso das menschlichste, seit es Menschen gibt.

Wer hat je behauptet, die Welt sei gerecht oder müsse es sein?

Die Welt ist heute kein bißchen anders als die Welt vor 100 Jahren oder vor 1000 Jahren (wohl aber anders als die Welt vor Laotse, die er beschreibt als eine Welt, in der Yin und Yang noch eins waren und alles seine natürliche Ordnung hatte). Dies ist sozusagen die nicht-negative Art und Weise, den Jetzt-Zustand zu beschreiben. Ich schicke heute ein Kind lieber in die Schule, als ich es noch vor hundert Jahren getan hätte. Ich finde es auch gut, das Lehrpersonen nicht mehr solch eine Macht über die Schüler haben. Sicher, nun ist das Pendel an vielen Schulen wohl in die andere Richtung ausgeschlagen. So ist das eben auch.

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Ganz nüchtern betrachtet präsentiert sich einem heute die Welt, wie sie normaler nicht sein könnte. Die Ressourcen werden knapper, also wird auch der Kampf um sie - bisher immer noch mehr oder weniger gut getarnt - immer offener und unverhohlener ausgetragen. Der Wohlstand neigt sich dem Ende, also kommt immer mehr von dem zum Vorschein, was der Wohlstand verdeckt hat: die wirkliche innere Einstellung zu allem. Die Toleranz gegenüber andersdenkenden. Die Bereitschaft, seine Meinung nicht nur unverbindlich zu sagen, sondern für sie auch geradezustehen. Notfalls mit dem eigenen Leben.

Es kommt ein Prüfstein auf die Menschen zu, das ist für mich der Punkt. Ich habe mich immer gefragt, wie ich mich wohl unter der Naziherrschaft verhalten hätte. Von meiner Natur her bin ich eher ein ängstlicher Mensch, meine unter dem Alkoholismus meines Vaters zerkrachte Familiengeschichte hat dem das Übrige hinzugefügt. Ich möchte heute nichts lieber als in Ruhe und Frieden leben.

Das wollten die Menschen früher sicher auch. Was aber, wenn mitten in dieser Friedenssehnsucht während kriegerischer Zeiten ein Jud' plötzlich vor der Tür stand? Was dann? Hätte ich ihn aufgenommen und ihn versteckt, damit mein Leben und das meiner Familie aufs Spiel gesetzt? Oder wäre ich unter die stillen Mitläufer gegangen: nur nicht auffallen, einfach genau so verrückt tun, wie die anderen, irgendwann wird das ja vorbei sein. Muss! Wie ist das in solchen Fällen plötzlich mit der vom christlichen Abendland so viel beschworenen Nächstenliebe? (und ich müßte mich schon schwer vertun, wenn nicht stimmte, daß ich in einer Zeit lebe, in der sich jeder selbst der Nächste geworden ist).

Ich glaube, daß solche elementaren Fragen wieder auf mich und die Menschen zukommen. Das Drehbuch dafür scheint geschrieben. Natürlich wird es diesesmal kein Jude sein und der Bösewicht auch nicht Deutschland. Das Böse findet immer eine neue andere Gestalt, um sich unter das Volk zu schummeln. Vor allem kommt es ja erst einmal in der Gestalt des Guten, des Beschützers und Heilbringers, die bezeichnenderweise gerade das Böse zu bekämpfen vorgibt. Das macht es besonders schwierig, sich ihm entgegenzustellen.

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Der Kalte Krieg ist vorüber, der demokratisch legitimierte Kapitalismus kürt sich mangels neutraler Schiedsrichter selbst zum Sieger. Ist er wirklich der Sieger? Plötzlich wird er durch die Hintertüre von Fünfjahresplänen und Zielvorgaben unterwandert, nur daß das "Controling" heißt, und von einer unerklärlichen (Sehn-)Sucht, möglichst alle Menschen so rasch wie möglich in Lohn und Brot zu bringen. Weshalb die Nachgeborenen auch so rasch wie möglich in Krippenbetreuung abgegeben werden sollen (das nennt sich dann "Familienpolitik"). Demokratische Wahlen werden zu einer Farce und ungewählte Wirtschaftsmogule bestimmen den Alltag der Bürger.

Was hat sich die alte Bundesrepublik noch über die Jahrespläne der DDR lustig gemacht. Und wie bestürzt war die westliche Familienidylle noch beim Anblick der Minimenschen in den DDR-Krippen, die da wie Hühner aneinandergereiht ihre Notdurft verrichteten. War das denn nicht Verstaatlichung der Menschen von Kind an? Undenkbar im individualistischen und freiheitsliebenden Westen. Und nur ein paar Jahre später schon offizielle Politik einer bundesdeutschen Regierung.

Der so oft belachte Etikettenschwindel des "real existierenden Sozialismus" hat den "real existierenden Kapitalismus" längst eingeholt. Der Staat schleudert Volksvermögen unter die Großkapitalisten und nennt das "Privatisierung". Die Firmen schmeißen die Leute raus und nennen das "Restrukturierung" (was die Kurse beflügelt, was irgendwie gut ist). Wenn die Menschen dann alleine sehen müssen, wie sie klarkommen, heißt das "Stärkung der Eigenverantwortung". Wer da nicht mitspielt, ist ein "Sozialschmarotzer".

Noch mehr Schwindel: eine Nettokreditaufnahme fast in Höhe der jährlichen Zinsverpflichtung nennt sich "ausgeglichener Haushalt". Die Banken und Zentralbanken produzieren eine nie dagewesenen Kreditblase und nennen das "Inflationsbekämpfung". Ärmeren Ländern das Geld per Kreditwirtschaft aus der Tasche zu ziehen und sie um ihren Rohstoffreichtum zu bringen, ist "Entwicklungspolitik". Die Bundeswehr im Inneren einzusetzen ist "Politik für den Inneren Frieden". Und dann schafft man es immer wieder, ein Land pleite zu reden, das "Exportweltmeister" ist.

Und neuerdings darf sich Deutschland sogar ganz offiziell an Angriffskriegen beteiligen, wie ich jüngst lesen konnte (http://www.ngo-online.de/ganze_nachricht.php?Nr=12853). Zwar ist das Planen und Vorbereiten eines Angriffskrieges grundgesetzlich verboten, jedoch die Ausführung selber nicht!. Man will es nicht glauben. Aber auch das spielt im Grunde keine große Rolle mehr. Der Kampf gegen den "internationalen Terrorismus" ebnet offensichtlich mit Leichtigkeit alle Wege, die zuvor noch aus völkerrechtlichen und rechtsstaatlichen Gründen unbegehbar waren. Daran sieht man auch schön, wie brüchig juristisch festgezurrte Regelungen sind: wenn es in der Seele nicht stimmt, nutzen alle Paragraphen nichts.

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Leider kann man mir heute nichts mehr vormachen. Das schöne Leben mit dem Gefühl: "Wir sind die Guten", ist endgültig vorüber. Ich bin in dem Glauben groß geworden, in einer besonderen Zeit zu leben: in einer Zeit dauerhaften Friedens, verwirklichter Menschenrechte und einer Regierungsform, die zumindest nicht vollkommen ungerecht ist und jedem Menschen persönliche Freiheit und Entfaltung ermöglicht: die Demokratie. Dieser Glaube wird live vor meinen Augen ad absurdum geführt. Und wenn ich zum Beispiel so wie heute solche Fragen iranischer Herkunft bzgl. der aktuellen Geschehnisse in Dänemark und den Umgang mit eigenen und fremden "Heiligtümern" lese:

...Ein anderer Punkt, der die Grundlosigkeit der Erklärungen der dänischen Regierung beweist, ist das widersprüchliche Verhalten der europäischen Länder gegenüber der Meinungsfreiheit. Sollten die Europäer die Beleidigung der islamischen Heiligtümer durch Meinungsfreiheit rechtfertigen wollen, dann sollten sie auch mit denjenigen, die den Holocaust als eine erfundene Geschichte bezeichnen und dafür auch noch solide Beweise vorlegen können, toleranter umgehen. Diejenigen Europäer, die über die Lüge des Holocaust schreiben, reden etc., werden sofort bestraft, inhaftiert oder von der Gesellschaft vertrieben. Kann man behaupten, dass, wenn man ein historisches Ereignis - auch falls wahr - in Frage stellt, man ein schreckliches Verbrechen begangen habe, aber, wenn man die Heiligtümer von Millionen Menschen beleidigt, man eine menschenwürdige Tat gemäß der Meinungsfreiheit begangen habe?...

(Quelle: http://www.irib.ir/worldservice/germanRADIO/kommentar.asp?id=1284&pn=1)

dann macht mich das zumindest sehr nachdenklich und ich kann es mir nicht verkneifen, dem Islam, designierter Weltfeind Nr.1, einen Sympathiepunkt zu geben. Ganz so eindeutig, wie man mir es mich glauben machen will, sind die Verhältnisse eben nicht. Auch wenn man es auf der anderen Seite genauso mit fehlgeleiteten Köpfen zu tun hat. Und angeblich rührt die ganze Aufregung um die Karikaturen ja sogar aus sexistisch gefärbten Fälschungen, die die Moslems gegen den Westen aufbringen sollen. - Es ist letztlich ein Kampf zwischen Teufel und Belzebub und ich bin irgendwo mittendrin und muß mich entscheiden. Nur wofür?

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Ich fasse zusammen: ich stelle mich darauf ein, daß ich ganz wie schon vorangegangene Generationen menschliche Geschichte mit all ihren Facetten hautnah miterleben kann, darf, muß. Und darauf, daß auch ich eines Tages ganz real vor so einem Prüfstein stehen könnte, der ja für mich bisher - im Gegensatz zu besagten vorangegangenen Generationen - immer nur rein geistiger Natur war.

Ich stehe im Grunde jetzt schon davor. Nur ist der Umgang mit diesem Prüfstein derzeit noch einfach: er fordert ja noch keine endgültige Entscheidung von mir, ich kann immer noch hin- und herhopsen, wie in der Kindersenundg "1,2- oder 3". Noch. An meiner Besorgnis bezüglich der aktuellen Entwicklungen, der Kriegstreibereien der herrschenden politischen Klassen und der Verrohung der Gesellschaften kann das nichts ändern. Es relativiert sie allerdings und zeigt mir in diesen Niedergängen auch menschliche Entwicklungsmöglichkeiten und Einblicke in mein Dasein, die ohne diesen Hintergrund vielleicht für immer durch die Rundum-Sorglos- und die "Wir-sind-die-Guten"-Gesellschaft versteckt bleiben würden.

Michael

Kommentare

10:25 20.02.2006
Hallo lore, habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut. MI
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11:28 19.02.2006
danke schön. unglaublich. habe deinen artikel mit genuß gelesen. ich spüre das auch. ähnlich. oder genauso. habe erstmal nichts mehr hinzuzufügen. sacken lassen. lore.
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2006-02-06 10:01