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2010-10-19 06:37
Der weinende Clown - 89
Sie nahm die Flasche und füllte die Gläser. Dann fiel ihr Blick auf das Etikett und sie hielt sich die Hand vor den Mund. „Oh Mann, das ist ja ein Château Mouton Rothschild Jahrgang 1945“, flüsterte sie ehrfürchtig. „Der kostet doch ein Vermögen!“
„Für meinen Freund Bruno ist mir nichts zu teuer“, entgegnete Gottfried und sah sie dabei augenzwinkernd an.
Karsten, der bislang schweigend dagesessen war und den Fremden die ganze Zeit argwöhnisch mit großen Augen beobachtet hatte, fasste sich nun ein Herz und fragte: „Wo kommst du denn her?“
„Von überall und nirgends – ich bin sehr viel unterwegs, weißt du.“
„Warst du schon mal in Amerika bei den Indianern und Cowboys?“
„Aber sicher doch.“
„Und in Afrika bei den Löwen?“
„Auch.“
„Aber am Nordpol warst du noch nie, oder?“
„Aber klar war ich schon am Nordpol. Und am Südpol.“
„Aber auf dem Mond warst du sicher noch gar nie!“, meinte Karsten.
„Du solltest jetzt essen, junger Mann, sonst wird es kalt und dann schmeckt es nicht mehr“, antwortete Gottfried und lächelte. Der Junge stellte seine Fragerei sofort ein und begann folgsam zu essen.

Sie aßen schweigend. Weder Bruno noch Sarah fanden den Ansatz zu einem Gespräch. Doch eigenartigerweise war die Situation nicht peinlich, wie es unter normalen Umständen vielleicht der Fall gewesen wäre. Es war beinahe so, als hätte Gottfried schon immer zur Familie gehört. Eine nie gekannte Harmonie machte sich im Raum breit, ein fast unbeschreiblicher Friede und ein tiefes Glücksgefühl senkten sich wie eine Glocke über die kleine Familieund hüllte sie in einen Wattebausch.
Letztlich war es Karsten, der die Stille unterbrach und fragte: „Schreibst du auch Bücher so wie Bruno?“
„Nein, Karsten. Ich habe noch nie geschrieben. Das, was ich schreiben wollte, haben andere für mich geschrieben, obwohl ich es sicherlich auch selbst könnte.“
„Geschichten?“
„Nein. Lebensweisheiten.“
„Aber wenn du nicht schreibst, was machst du dann?“
„Ich sorge immer dafür, dass die Dinge so laufen wie sie laufen“, antwortete Gottfried.
„Klingt sehr rätselhaft“, warf Sarah ein.
„Ich bin – grob ausgedrückt – so etwas wie ein Organisator, der die Dinge wieder in Ordnung bringt, wenn sie einmal aus dem Ruder laufen sollten.“
„Du meinst, wenn ich meinen Korkenzieher nicht finde, dann ziehst du einfach einen aus der Tasche – so in der Art?“, fragte Sarah und lachte. Ihre anfängliche Befangenheit und Nervosität waren wie weggewischt.
„Du hast es erfasst. Ungefähr so, ja.“ Gottfried erwiderte ihr Lachen.
„Na dann bist du ja gewaltig ausgelastet, nehme ich an.“
„Es hält sich in Grenzen.“
„Und was machst du sonst noch so alles?“
„Ich beschäftigte mich mit allem Möglichen, mit Psychologie, mit Medizin, mit Technik, mit Mathematik, mit Musik und Literatur, mit Malerei, mit Kunst jeder Art, mit Astronomie, Chemie, Quantenphysik, Metaphysik, mit Architektur, Archäologie, antiken und neuzeitlichen Sprachen, mit spirituellen Dingen – mit vielem mehr. Aber mein größtes Hobby sind die Menschen.“

„Menschen sind dein Hobby?“
„Ja. Absolut.“
„Und warum ausgerechnet Menschen?“
„Weil alles auf der Welt berechenbar ist – aber Menschen stellen hier eine Ausnahme dar – zumindest bis zu einem gewissen Teil. Sie sind so verschieden, jeder ist ein Unikat und sie haben ein Eigenleben und eine Gedankenwelt, die oft nur schwer zu ergründen sind. Und genau das macht sie interessant. Ich beobachte sie schon lange Zeit, doch bis heute bin ich noch nicht so ganz dahinter gekommen, weshalb sie manche Dinge tun und andere lassen.“

„Sie machen viele Dummheiten – ich sehe es an mir selbst“, warf Bruno ein und lächelte dabei vielsagend.
„Dummheiten? Ja. Und das ist noch milde ausgedrückt. Schon Albert Einstein sagte einmal: ,Die Dummheit der Menschen und das Universum sind unendlich. Beim Letzteren bin ich mir allerdings nicht ganz sicher’. Menschen sind in der Tat oft dumm und machen sich mit dem, was sie sich schaffen – sei es nun in politischer, technischer oder gesellschaftlicher Hinsicht oder auch in ihren Beziehungen das Leben schwer, obwohl sie eigentlich auf der Welt sein sollten, um es zu genießen, die Dinge dankbar anzunehmen und mit der Natur zu leben, anstatt gegen sie. Auch die Wissenschaft steckt – trotz des gewaltigen Fortschritts der letzten Jahrzehnte – immer noch in den Kinderschuhen und verbreitet einen Irrtum nach dem anderen, der dann Jahre später wieder revidiert werden muss. Sie versucht, ein Puzzle zu einem Ganzen zusammenzufügen, doch es wird noch viel Zeit vergehen, bis das Bild komplett ist. Die Menschheit tastet sich langsam durch die Dunkelheit ins Licht, obwohl alles ganz einfach ist, weil alles auf den gleichen Prinzipien beruht.“

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2010-10-19 06:37