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2007-11-28 20:33
Borderline-Störung
Vom richtigen Umgang mit seelischen Grenzgängern

Von Inka Wahl

28. November 2007 Grenzgänger sind sie in vielerlei Hinsicht, und der Versuch, sie zu beschreiben, endet zwangsläufig in Schwarzweißmalerei. Denn Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) leben und fühlen in Extremen. Sie schwanken zwischen Liebe und Hass, sind in diesem Moment von Emotionen überschwemmt und fühlen sich schon im nächsten so gefühlsleer, dass sie daran zweifeln, existent zu sein. Sie vermeiden es um jeden Preis, alleine zu sein, und trennen sich, um nicht verlassen zu werden. All das ist Ausdruck einer gestörten Affektregulation - des zentralen Merkmals der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Man tue gut daran, die Diagnose dieser schwerwiegenden psychischen Erkrankung nicht vorschnell zu stellen, lautete der Tenor der Experten auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, der vergangene Woche in Berlin stattgefunden hat. Denn für die Diagnose BPS müssen zahlreiche Kriterien erfüllt sein.

Ein bis zwei Prozent der Menschen haben das Vollbild der Erkrankung. Und die stehen unter großem Druck - etwa zwei Drittel der Borderline-Patienten versuchen, sich das Leben zu nehmen. So leiden die Betroffenen darunter, dass sie plötzlich und oft ohne ersichtlichen Grund eine unerträgliche innere Spannung befällt. Achtzig Prozent der Patienten beenden diesen quälenden Zustand, indem sie sich selbst verletzen, berichtete Martin Bohus vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Die Selbstverletzung diene nicht vorrangig dazu, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wie das oftmals unterstellt werde, sagte Philipp Haake vom Campus Kortenberg in Belgien. Sie sei auch nicht als missglückter Suizidversuch zu werten, erklärte Franz Resch, Kinder- und Jugendpsychiater der Universität Heidelberg, sondern im Gegenteil als ein Versuch, Suizidimpulse abzuwehren. „Außerdem hat Selbstverletzung bei Borderline-Patienten auch eine identitätsstiftende Funktion im Sinne von: Ich blute, also bin ich“, so Resch.

Wissenschaftler auf Ursachenforschung

Nach eigenen Angaben fühlen die Patienten während der Selbstverletzung wenig oder überhaupt keinen Schmerz. Neurophysiologische Untersuchungen bestätigen das. Die Forschergruppe um Christian Schmahl vom Mannheimer Zentralinstitut zeigte mit Hilfe von bildgebenden Verfahren, dass jene Areale im Gehirn, die für die emotionale Bewertung von wahrgenommenen Reizen verantwortlich sind, während eines schmerzhaften Reizes weniger aktiviert sind als bei Menschen ohne Borderline-Syndrom. Je intensiver, desto besser, scheint die Devise. Sie balancieren auf Brücken und Hochhäusern, sie setzen sich auf Eisenbahngleise und warten auf den Zug, fahren mit dem Fahrrad auf der Autobahn. „Hochrisikoverhalten“ nennen es die Experten. Auch Impulsivität ist ein Merkmal der Störung, die sich etwa in Form von Drogen- und Alkoholmissbrauch, Fressanfällen oder sexueller Promiskuität niederschlägt. Bohus präsentierte die Ergebnisse einer bisher unveröffentlichten Studie von Marsha Linehan von der Universität Seattle in Washington.

Darin hätten 85 Prozent der Frauen mit BPS angegeben, im vergangenen Monat ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem unbekannten Sexualpartner gehabt zu haben. Zum Vergleich: Unter homosexuellen Männern sei dies nur zu 35 Prozent der Fall. „Die Population der Borderline-Persönlichkeitsstörungen ist damit eine Hochrisikogruppe für HIV“, folgerte Bohus. Auf Ursachen der Störung will sich die Fachwelt bislang nicht festlegen. Allerdings sei bekannt, dass etwa siebzig Prozent der Betroffenen Opfer sexuellen Missbrauchs seien, etwa sechzig Prozent körperliche Gewalt - oft innerhalb der Familie - erfahren hätten und rund vierzig Prozent emotional vernachlässigt worden seien. In jedem Falle scheint es bei den Betroffenen Gründe zu geben, welche die Entwicklung eines stabilen Selbstbildes und der Fähigkeit, tragfähige Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, beeinträchtigten. Borderline sei deshalb als eine chronische Entwicklungsstörung zu verstehen, sagte Peter Fiedler vom Psychologischen Institut der Universität Heidelberg.

Die Erwartung, zurückgewiesen zu werden

Trotzdem sind Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nur selten alleine. Sie tun alles dafür, das zu verhindern. So suchen sie ständig extreme Nähe zu anderen Menschen, fühlen sich, dort angelangt, aber verachtenswert und unzumutbar für den anderen. So zeigte sich in einer Studie, die Corinna Scheel vom Universitätsklinikum Freiburg vorstellte, dass BPS-Patientinnen im Vergleich zu gesunden und depressiven Frauen eine erhöhte Scham empfinden - ganz unabhängig davon, ob die Situation Anlass zum Schämen gibt oder nicht. „Offenbar haben die Patientinnen allgemein das Gefühl, mit einem Makel behaftet zu sein“, sagte Scheel. Sie fühlen sich also schnell kritisiert und angegriffen, verhalten sich dann gleichzeitig anklammernd und zurückweisend. Das Ergebnis sind instabile, chaotische und dennoch intensive Beziehungen.

Menschen mit einer BPS haben offenbar auch Schwierigkeiten, die Emotionen am Gesichtsausdruck anderer korrekt abzulesen. So ergab eine Studie von Gregor Domes von der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Rostock, dass Borderline-Patienten einen uneindeutigen Gesichtsausdruck tendenziell als ärgerlich interpretieren. Die Erklärung der Forscher: Borderline-Patienten erwarten von vornherein, in sozialen Situationen zurückgewiesen zu werden. Angela Merkl von der Psychiatrischen Klinik der Charité Universitätsmedizin Berlin stellte fest, dass Borderline-Patienten insgesamt mehr Fehler bei der Einschätzung emotionaler Gesichtsausdrücke machen: „Bezüglich Angst allerdings scheinen sie sensitiver zu sein, denn ängstliche Gesichter schätzen sie akkurater ein als gesunde Personen.“

Bisher keine Pille gegen das Syndrom

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung verlangt eine gründliche Diagnostik, hieß es auf dem Berliner Kongress. Gerade bei Jugendlichen sei das aber oft schwierig. So zeigte sich in der Heidelberger Schulstudie, in der die Gruppe um Romuald Brunner von der Kinder- und Jugendpsychiatrie etwa 5700 Neuntklässler aus allen Schultypen im Rhein-Neckar-Kreis untersucht hat, dass sich sechs Prozent der fünfzehnjährigen Mädchen regelmäßig selbst verletzten und etwa acht Prozent bereits mindestens einen Suizidversuch hinter sich hatten. „Die rechtfertigen aber per se noch nicht die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung“, sagte Resch. Er fordert deshalb eine ausführliche Diagnostik im Interview zur Symptomatik und Biographie der Betroffenen, möglichst mehrmals. Auf der Basis von Angaben in einem Fragebogen sei eine Diagnosestellung nicht möglich. Immer noch gilt die Borderline-Persönlichkeitsstörung vielfach als nicht behandelbar. Auf dem Kongress war man sich aber einig, dass die Psychotherapie gute Therapiemöglichkeiten biete.

Eine Auswertung der Effekte von Psychopharmaka, die von der Forschungsgruppe um Klaus Lieb von der Psychiatrischen Klinik der Universität Mainz zusammen mit Kollegen der Universität Freiburg und dem Deutschen Cochrane-Zentrum vorgenommen wurde, ergab, dass kein Medikament die Störung in all ihren Dimensionen verbessern könne. „Eine Tablette, die der Komplexität der Erkrankung gerecht würde, gibt es nicht. Psychopharmaka richten sich immer nur gegen einzelne Symptome“, sagte Resch. Eine tragfähige therapeutische Beziehung zum Patienten aufzubauen und zu halten sei das wichtigste Element der psychotherapeutischen Behandlung. Für den Patienten sei eine Person, die verlässlich da ist, ihn bedingungslos akzeptiert und sein inneres und äußeres Chaos erträgt, schon an sich eine neue und heilsame Erfahrung.

Text: F.A.Z., 28.11.2007, Nr. 277 / Seite N1

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Kommentare

14:58 20.12.2007
mindestens die hälfte wenn nicht deutlich mehr davon trifft auf mich zu Oo
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unbekannt
21:20 28.11.2007
Irgendwie nichts Neues. Da gibt es noch jede Menge mehr, gibt einige gute Bücher

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21:14 28.11.2007
Danke
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unbekannt
21:08 28.11.2007
Das war ein Dank ... ich finde es super, daß Du Dich dafür interessierst ... ich mich auch ... und für mich hat Dein Beitrag einige Fragen beantwortet ... sorry

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20:57 28.11.2007
ist keine aufklärung ist nur etwas was mich interessiert. wenn sich jemand angegriffen fühlt so tut es mir leid.
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unbekannt
20:54 28.11.2007
Danke für die Aufklärung ...

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2007-11-28 20:33