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2005-05-29 05:45
Über Kontakte
Was schwächt mich eigentlich, und was stärkt mich? Manchmal gehe ich aus Begegnungen mit Menschen gestärkt heraus, manchmal geschwächt. Manchmal fühle ich mich nach dem Lesen eines Textes stärker, als davor, manchmal schwächer. Gleiches gilt für irgendeine Begegnung, für irgendein Telefonat. Was steckt dahinter?

Geschwächt fühle ich mich, wenn die Begegnung mich dazu veranlasst hat, mich selbst zurückzustellen. Wenn ich etwas nicht gesagt habe, was ich eigentlich hätte sagen müssen, ob aus Rücksicht auf den anderen oder aus Angst vor seiner Reaktion.

"Das kann ich (dem) jetzt nicht sagen", geistert mir durch den Kopf. Ich kann ihm nicht sagen, was ich wirklich denke.

Warum kann ich das nicht? Warum kann ich in einer bestimmten Situation nicht einfach sagen, was ich denke? Ist mir denn die Zunge verklebt? Wenn ich behaupte, daß ich in manchen Fällen Rücksicht auf den anderen nehme und deswegen nicht sage, was ich wirklich denke, dann ist das nur die halbe Wahrheit. Denn die Geschichte wird sich ja weiterentwickeln, der andere wird irgendwie reagieren, auf seine Weise.

Also fürchte ich die Reaktion meines Gegenübers. Was sind übliche Reaktionen darauf, wenn ich jemandem glatt und schnörkellos sage, was ich denke (Reaktionen, die ich auch von mir kenne)? Er fühlt sich angegriffen, verletzt, mißverstanden. Im schlimmsten Falle wird er den Kontakt zu mir abbrechen. Da ist sie wieder, diese uralte Angst, allein gelassen zu werden und damit allein zu sein, nur weil man mal die Wahrheit gesagt hat.

Ach so, er könnte natürlich auch mir die Wahrheit sagen...

Irgendwo auf dieser Skala ordne ich die zu erwartende Reaktion ein. Und noch bevor ich die Wahrheit sage - will sagen, bevor ich sage, was ich denke - steht im Wesentlichen schon fest, WIEVIEL Wahrheit ich sagen werde. Wieviel Wahrheit verträgt dieser Kontakt? Wieviel Wahrheit will dieser Kontakt? Wieviel Wahrheit braucht dieser Kontakt?

Und: wieviel Wahrheit vertrage ich?

Es gibt Kontakte, die darauf beruhen, sich gegenseitig nicht die Wahrheit zu sagen, sondern sich stattdessen etwas vorzumachen: eine heile Welt z. B. (das sind die meisten).
Es gibt Kontakte, die darauf beruhen, daß mir mein Gegenüber die Wahrheit nicht sagen will oder kann (die sind nervig).
Es gibt Kontakte, die darauf beruhen, daß mein Gegenüber von mir erwartet, daß ich ihm nicht die Wahrheit sage (die sind sehr anstrengend).
Es gibt Kontakte, die beruhen darauf, daß jeder die Wahrheit des anderen kennt (die Welt ist gar nicht so heile) und es daher unnötig erscheint, sie auch noch auszusprechen. Das können sehr lustige Kontakte sein, da einem außer Lachen oftmals gar nichts anderes mehr übrig bleibt. Aber echt sind solche Kontakte im Grunde auch nicht. Und man muß aufpassen, nicht auf ein Stammtischniveau zu sacken bzw. "auf hohem Niveau zu leiden".

Und dann gibt es noch die Kontakte, die davon leben, daß man sich die Wahrheit sagt. Das funktioniert aber nur, wenn großes Vertrauen da ist und wenn ich genau weiß, daß der andere mir nicht die Wahrheit sagt, um sich über mich zu stellen oder aus lauter Frust an seinem eigenen Leben (dann ist es nur seine Wahrheit, nicht meine), sondern er sagt mir die Wahrheit, weil er will, daß ich auch ihm die Wahrheit sage.

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Es zeigt sich, daß die zuerst genannten Kontakte mit der Zeit immer stärker an Bedeutung verlieren. Das Interesse, anderen etwas vorzumachen und an diesem Spielchen teilzunehmen: "Wer zuerst zugibt, daß er ein Problem hat, hat verloren" schwindet unaufhaltsam. Warum? Weil solche Kontakte auf Lügen beruhen und lügen kostet immer Energie.

Noch mehr schwächen mich aber Kontakte, die einzig darauf beruhen, daß ICH nicht sagen darf, was ich wirklich denke. Solche Kontakte laufen früher oder später auf die Frage "Entweder ich oder Du" und somit auf Trennung hinaus. Genau genommen war da niemals ein Kontakt.

Kontakte, wo ich die Wahrheit nicht verbergen muß, wo sie aber im Grunde keine große Rolle spielt (man kennt sie ja, vermeintlich), sind eine nette Abwechslung und oft sehr unterhaltsam und lustig. Aber wenn man ehrlich ist: mehr sind sie halt auch nicht.

An dieser Stelle machen die Kontakte weiter, die alles andere hinter sich gelassen haben. Das sind nicht viele, und sie können auch sehr anstrengend sein. Aber sie stärken mich ungemein. Und je näher ich diese Art von Kontakt kennenlerne, desto weniger interessieren mich alle anderen.

MI



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