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Tagebuch Aaron
2007-01-09 18:00
Der Vogel
Sie strich die Decke glatt, die über dem Käfig gelegen hatte und verstaute sie in einer der großen Schubladen der Wandkommode. Vermutlich hätte sie eine Wäsche nötig. Die weiße Farbe war schon ganz grau geworden. Aber wozu, dachte sie sich. Sie war schon so alt, genau wie der Vogel es gewesen war. Vielleicht sollte sie die Decke einfach wegwerfen.
"Johnny hat ihn jetzt begraben, Mom." Die ruhige Stimme ihrer Tochter ließ sie aufblicken.
"Er hat sogar ein kleines Holzkreuz gebastelt und in die Erde gesteckt."
"Das ist lieb von ihm. Kommt er nicht nochmal her?"
"Nein, Mom. Er hat heute nachmittag nochmal Unterricht. Michael wird in abholen, wenn er Feierabend hat. Ich habe also noch ein paar Stunden Zeit für dich."
Sie legte ihren Arm um ihre Mutter und fragte vorsichtig: "Wie geht es dir denn jetzt? Ich weiß, wieviel dir dieser Vogel bedeutet hat."
Dieser Vogel hatte ihr tatsächlich sehr viel bedeutet. Er war ein Geschenk ihres Mannes gewesen. Vor fast genau vier Jahren hatte er ihn halb erfroren auf dem Fenstersims gefunden und ihm mit viel Geduld und Liebe wieder zu neuen Kräften verholfen.
Er musste wohl jemandem entflogen sein. Sein Gefieder war wie ein einziges strahlendes blau. Noch nie zuvor hatte der alte Mr. Green einen solchen Vogel gesehen. Sein Instinkt sagte ihm, das dieses Tier wertvoll sein müsste. So verzichtete er auf Flugblätter oder Inserate in der Zeitung, um den rechtmäßigen Besitzer zu ermitteln. Schließlich wäre der Vogel sowieso schon längst erfroren, hätte er ihn nicht gefunden und sich um ihn gekümmert. Stattdessen schenkte er ihn seiner Edith. "Nun schenkt dir der alte Mr. Green einen blauen Vogel. Damit hättest du auch nicht mehr gerechnet, nicht wahr?," hatte er gesagt und seiner erstaunten Frau den Vogel regelrecht in die Hand gedrückt. "Siehst du wie zutraulich er ist? Ihr werdet sicher bald gute Freunde werden." Der kleine Johnny hatte beschlossen den Vogel Mr. Green zu nennen, und so hatte dieser treue Gefährte auf eine weitere Art eine besondere Bedeutung für seine Großmutter.
"Mom? Alles in Ordnung? Setz dich doch. Möchtest du vielleicht einen Tee?" Die mitfühlende Stimme ihrer Tochter riss sie aus den Gedanken.
"Weißt du, was mich am meisten beschäftigt?" Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. "Dass es nun gar keinen Mr. Green mehr in diesem Haus gibt."
Die Augen der Tochter füllten sich mit Tränen und sie nickte nur stumm. Auch sie würde heute nicht nur um einen Vogel trauern.

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